Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
dem Fenster am Café vorbeidrücke, muss ich auf Erbes üppiges schwarzweißes Fell hinuntersehen. Noch vor weniger als einer Stunde hat dieser Kater blutend in einem Haufen Müll auf der Straße gelegen und jetzt ist er ein Energiebündel. Es liegt eine enorme Verantwortung in meiner Fähigkeit, Pflanzen, Tiere und Menschen heilen und ihnen neues Leben einhauchen zu können. Als ich Ella wieder gesund gemacht habe, habe ich mich sehr besonders gefühlt – nicht, weil ich mir deswegen wie eine Heldin vorkam, sondern weil ich jemandem helfen konnte, der es brauchte. Ich schleiche anein paar weiteren Türen vorbei. Immer noch höre ich Héctors Lachen durch das Caféfenster auf die Straße dringen. Plötzlich weiß ich, was ich tun muss.
Zwar ist die Vordertür verschlossen, als ich aber um Héctors Haus herumgehe, kann ich mit Leichtigkeit ein Fenster öffnen. Erbe leckt an seinen Pfoten, während ich durch das Fenster ins Innere klettere. Ein Schauder überkommt mich; noch nie zuvor bin ich in ein Haus eingebrochen.
Drinnen ist es dunkel und beengt, die Luft ist stickig. Jede erdenkliche Stellfläche ist mit katholischen Heiligenfiguren bedeckt. Ohne Probleme finde ich Héctors Mutter. Sie liegt in der Ecke auf einem Doppelbett, ihre Bettdecke hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Die Beine sind in einem unnatürlichen Winkel verdreht und sie sieht sehr gebrechlich aus. Pillenfläschchen stehen auf einem kleinen Nachttisch, daneben ein Rosenkranz, ein Kruzifix, eine kleine Figur der Jungfrau Maria mit gefalteten Händen und ungefähr zehn andere Heilige, deren Namen ich nicht weiß.
Ich lasse mich neben der schlafenden Carlotta auf die Knie sinken. Ihre Augen öffnen sich blinzelnd und suchen die Umgebung ab. Ich erstarre und halte die Luft an. Zwar habe ich noch nie mit ihr gesprochen, doch als sie mich an ihrer Seite entdeckt, tritt ein Ausdruck des Erkennens in ihre Augen. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen.
»Pssst«, sage ich zu ihr. »Ich bin eine Freundin von Héctor, Señora Ricardo. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können, aber ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen.«
Sie reagiert mit einem Zucken der Augenlider. Ich streichle ihre Wange mit meinem linken Handrücken, lasse danach die Hand auf ihrer Stirn ruhen. Ihr graues Haar ist spröde. Sie schließt die Augen.
Mein Herz pocht und meine Hand zittert, als ich sie auf ihrenBauch lege. Erst jetzt wird mir klar, wie krank und schwach sie tatsächlich ist. Das eisige Kitzeln steigt meine Wirbelsäule empor und fließt durch meine Arme in die Fingerspitzen. Mir wird schwindelig. Meine Atmung beschleunigt und mein Herz schlägt jetzt noch schneller. Trotz der prickelnden Kälte unter meiner Haut fange ich an zu schwitzen. Carlotta öffnet die Augen und gibt ein leises Stöhnen von sich.
Ich schließe die Augen. »Schhhh, alles in Ordnung, alles okay«, murmele ich, wie um uns beide zu beruhigen.
Und dann, mit der eisigen Kälte, die von mir auf sie abstrahlt, beginne ich, sie von ihrer Krankheit zu befreien. Nur widerspenstig zieht sich die Krankheit zurück, klammert sich in Carlottas Innerem fest, unwillig den Griff zu lösen. Aber schließlich geben auch die letzten hartnäckigen Reste nach.
Ein leichter Anfall lässt Carlotta erzittern, und ich tue mein Bestes, um sie festzuhalten. Ich öffne die Augen. Das Aschgrau in ihrem Gesicht verwandelt sich in ein leuchtendes Rosa.
Ich bekomme einen Schwindelanfall, löse meine Hand von Carlottas Körper und falle rückwärts auf den Boden. Mein Herz hämmert so stark, dass ich Angst bekomme; es fühlt sich an, als wolle es aus meinem Körper ausbrechen. Nach einer Weile beruhigt es sich wieder.
Als ich schließlich aufstehe, sitzt Carlotta mit verdutztem Blick auf dem Bett, so als versuchte sie sich zu erinnern, wo sie sich befindet und wie sie dort hingekommen ist.
Ich stürze in die Küche und trinke drei Gläser Wasser. Als ich zurückkomme, versucht Carlotta noch immer, ihre Fassung wiederzuerlangen. Ich treffe eine weitere rasche Entscheidung und trete an den Nachttisch. Dort untersuche ich die zehn verschiedenen Pillenfläschchen und entdecke das Medikament, das ich suche. Achtung: kann zu Müdigkeit führen . Ich öffne das Fläsch chen, nehme vier Pillen heraus und stecke sie in meine Tasche.
Ich sage nichts und gehe aus dem Zimmer. Bevor ich draußen bin, drehe ich mich noch einmal um und sehe Carlotta an. Sie erwidert meinen Blick. Ihre geheilten, nun nicht mehr verdrehten Beine
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