Die Macht der Steine
weißen Gebäude, die aus Pilgern und Einheimischen bestehende Menge – die weißen Gewänder der einen kontrastierten mit den bunten Hosen und Mänteln und Kleidern der anderen. Es gab Autos mit Verbrennungsmotoren und Pferdefuhrwerke. An der Westseite der Enklave befand sich Reahs Tempel, ein würfelförmiges Bauwerk, das von Säulen und schlichten Reliefs verziert war. Pilger saßen unter breiten Markisen, dösten oder hatten sich zum Gebet niedergekniet und warteten darauf, daß die Hitze nachließ. Direkt neben dem Gebäude stand eine etwa zwanzig Meter hohe Säule, die von der Bronzestatue einer schlicht gekleideten Frau gekrönt wurde.
»Beten sie zu ihr?« fragte Arthur.
»Nein, nein!« dementierte Ascoria. »Für die Habirus ist sie eine Prophetin, und für Moslems und Christen gleichermaßen ist sie eine Heilige. Die Moslems – einige zumindest – betrachten die Säule als Ersatz für Mekka.«
»Wissen sie denn nicht, wo Mekka liegt?« fragte Kahn.
»Nein, wie sollten sie auch?« gab Ascoria die Frage zurück.
»Der Polarstern ist die irdische Sonne«, erklärte Kahn. »Zumindest in dieser Ära.«
»Was?« fragte Ascoria ungläubig.
»Sie haben es nicht vergessen…« Kahn zögerte. Arthur schüttelte langsam den Kopf. »Das glauben auch manche von uns in Neu-Kanaan«, sagte er. »Alte Aufzeichnungen.«
»Die Moslems haben sich damit abgefunden, daß sie die Richtung von Mekka nicht mehr bestimmen können«, meinte Ascoria. »Es wäre ziemlich problematisch, sie jetzt noch vom Gegenteil überzeugen zu wollen.«
»An dieser Stelle wurden die Sezessionskriege beendet«, sagte Lod. Sanisha, die junge Schülerin, nickte zustimmend. »Wir demonstrieren, daß die Gründer von Kanaan und die Städte in Frieden koexistieren können.«
Arthur schaute zu den Türmen der Stadt auf. Ihre Schatten fielen über die Enklave und erkletterten dann die gegenüberliegende Mauer. »Wo ist Reah jetzt? Ihr Körper, meine ich.«
»Sie kam drinnen ums Leben. Wir wissen nichts über den Verbleib ihres Körpers«, erwiderte Ascoria. »Aber wir wissen, daß sie tot ist. Die ersten Lehrer sahen sie sterben. Die meisten Kinder sind heute Bewohner dieser Stadt, Ärzte, Priester, Rabbis sowie Mullahs und Muezzins im moslemischen Viertel. Einige von ihnen wollen Reah in der Stadt gesehen haben.« Er lächelte nachsichtig.
Sie blieben in der Nähe des Tempels stehen, und Lod sprach ein Dankgebet. Eine breiter Raum lag zwischen der inneren Mauer und den äußeren Gebäuden der Enklave. Pilgerfahrzeuge parkten in dieser Lücke, wobei Pferdekarren unter Holzbedachungen abgestellt waren. Ströme von Wasser flossen unter der Mauer hindurch, wobei ein Seitenarm durch einen Kanal direkt unter dem Tempel geleitet wurde. Die Mauer selbst produzierte auf Schulterhöhe Obst und Gemüse, ein vertikaler Garten, aus dem die Pilger ihre Mahlzeiten zusammenstellten. Anfangs, so erzählte Lod, hatte die gesamte Enklave von diesen Erzeugnissen gelebt -Kinder und Lehrer –, aber heute reichten die Erträge nicht mehr für alle aus und waren daher für die Pilger reserviert. Die Einheimischen bezogen ihre Nahrungsmittel von Anbaugebieten außerhalb der Stadt und hatten – für Notfälle – schattige Gärten auf den Dächern angelegt.
Die meisten Hotels der Enklave waren jetzt voll belegt, so daß man weiße Zelte in Zentrumsnähe aufgeschlagen hatte. Familien saßen vor diesen Zelten im Schutz großer Planen oder im Schatten der Stadt. Die Atmosphäre erinnerte an einen Freizeitpark, wobei die Aktivitäten jedoch durch die Hitze gedämpft wurden.
»Das ist schön«, meinte Arthur.
Ascoria parkte den Lkw vor einem kleinen, aus Ziegelsteinen errichteten Wachhäuschen in der Nähe der Stadtmauer, von dem ein überdachter Pfad zu Reahs Tempel führte. Er bedeutete Kahn und Arthur, ihm zu folgen. Jeshua nahm die Tasche auf und schloß sich ihnen an.
»Du und dein Freund könnt heute bei meiner Familie und meinen Schülern übernachten«, erbot sich Ascoria. »Wir teilen unser Heim zwar schon mit Pilgern, aber wenn ihr zusammenrückt, wird der Platz ausreichen.« Er wandte sich Jeshua zu. »Bist du bereit, der Stadt übergeben zu werden… gewillt, meine ich?«
Jeshua nickte.
»Es ist wirklich ganz einfach. Nähere dich der Mauer durch das Wachhäuschen. Der Posten wird dich passieren lassen – sobald er dich als Stadt-Teil identifiziert hat.« Ascoria deutete auf Jeshuas Arm. Jeshua griff sich an den Arm und legte die Wunde frei.
»Wirst
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