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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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wunderbare Mensch und Freund, Marie geliebt hatte. »Michael, es tut mir leid. Es tut mir entsetzlich leid.«
    »Marie war eine ganz besondere Frau, John.«
    »Ja, Michael, das war sie wirklich.«
    In gemeinsamem Schweigen sannen sie über die Endgültigkeit des Todes nach. Plötzlich unterbrach John ihre kleine Andacht und ging in die Bibliothek, wo er in den Schubladen seines Schreibtischs herumkramte. Als er in die Halle zurückkehrte, hielt er einen Umschlag in der Hand.
    »Seltsam. Vor vielen Jahren hat mir Marie dies hier gegeben.« Er sah Michael an. »Falls ihr etwas zustößt, sollte ich Ihnen diesen Umschlag aushändigen.« Er reichte ihn dem Priester.
    Michael nahm ihn wie ein kostbares Geschenk entgegen.
    »Wollen Sie ihn denn nicht öffnen?«
    Michael erbrach das Siegel, nahm einen einzigen Bogen heraus und begann zu lesen. Als er fertig war, zitterten seine Hände. Mit Tränen in den Augen sah er John an. »Ich habe eine Tochter«, flüsterte er tonlos. »Guter Gott … eine Tochter.«
    Aufseufzend barg er sein Gesicht in den Händen und sank in den nächstbesten Sessel. Endlich wusste er, warum Marie ihn vor zwanzig Jahren verlassen hatte. Er hatte ihrer einzigen Liebesnacht die Schuld dafür gegeben und fast sechs Jahre lang gebangt, was wohl aus Marie geworden war. Und sich geschämt und verachtet, weil er sie entehrt hatte. Als sie dann an einem bitterkalten Tag nach St. Jude zurückgekehrt war, hatte sie ein kleines Mädchen an der Hand … Sie war inzwischen verheiratet und glücklich, wie sie ihm erzählte. Da sie immer auf Abstand zu ihm bedacht war, glaubte er ihre Geschichte. Von da an war die Vergangenheit kein Thema mehr, aber er fragte sich manchmal, ob sie genauso oft daran zurückdachte wie er.
    Plötzlich packte ihn die Wut: Wut auf sich selbst, auf das Priesteramt und Wut auf Gott. Er hätte seinem Amt den Rücken kehren sollen, sobald er wusste, dass er Marie liebte. Dann könnte sie heute noch leben!
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte John besorgt, als der Priester ihn nur anstarrte.
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo meine Tochter jetzt ist«, sagte Michael, als die größte Wut verflogen war.
    »Vielleicht hat Marie ja eine gute Familie gefunden, wo sie mit Brüdern und Schwestern aufwachsen kann.«
    »Aber nein, John. Meine Tochter ist inzwischen eine junge Frau … ungefähr neunzehn oder zwanzig Jahre alt.«
    Wieder war John überrascht.
    »Ich kannte Marie schon viele Jahre«, erklärte Michael. »Sie ist als Waisenkind in St. Jude aufgewachsen. Als ich meine Stelle antrat, war sie das schönste Geschöpf, das man sich vorstellen kann. Sowohl innerlich als auch äußerlich. Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Aber ich habe Marie ehrlich geliebt. Ich liebe sie noch heute.«
    »Das weiß ich. Warum also machen Sie sich Vorwürfe? Marie hat Sie doch auch geliebt.«
    »Aber meine sogenannte Liebe hat sie in eine lieblose Ehe getrieben.«
    »Ehe?« John war verwirrt. »Mir gegenüber hat sie keinen Ehemann erwähnt.«
    »Im Waisenhaus hat sie nie über ihr Privatleben geredet«, flüsterte Michael. »Offenbar wollte sie mir die Bloßstellung ersparen. Außerdem wollte sie verhindern, dass ich mein Amt aufgebe, was ich vielleicht erwogen hätte, wenn ich von dem Kind gewusst hätte. Lieber hat sie sich selbst geopfert.«
    Michael ließ den Brief auf den Schoß fallen und faltete die Hände. Tief in Gedanken versunken tippte er mit den Fingerspitzen gegen seine Lippen. »Was soll ich tun, John? Soll ich nach meiner Tochter suchen? Soll ich ihr sagen, dass ich ihr Vater bin? Ich weiß, dass sie den Mann verachtet hat, den sie für ihren Vater hielt.«
    »Und woher wissen Sie das?«
    »Von ihr selbst. Sie hat Sister Elizabeths Schule besucht, und ich habe ihr oft die Beichte abgenommen.«
    »Zuerst einmal müssen Sie Ihre Tochter finden und sehen, wie es ihr geht«, meinte John. »Ob Sie ihr die Wahrheit sagen, können Sie später entscheiden.«
    Michael nickte. »Sie haben recht, John. Genauso hätte Marie es gewollt.«
    Plötzlich unterbrachen Hundegebell und lautes Klopfen ihre Unterhaltung. Als John verärgert die Tür aufriss, sah er sich einem Mann gegenüber, der unbeeindruckt vom Knurren der Hunde die Veranda betreten hatte. Fünf weitere Männer standen unten auf der Wiese. Die Pferde hatten sie an den Pfosten angebunden.
    »Guten Abend, Mr Duvoisin. Wir müssen kurz mit Ihnen sprechen.«
    »Und worüber?«, fragte John.
    »Es geht um zwei

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