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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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vermute. Ihr Vater hat Sie noch nie nach Charmantes eingeladen, nicht wahr?«
    »Das ist richtig.«
    »Wenn Sie jemals mit ihm ins Reine kommen wollen, müssen Sie hinfahren, solange er zur Verzeihung bereit ist«, flehte Michael. »Womöglich kommt diese Chance nie wieder.«
    »Ich will seine Vergebung nicht«, entgegnete John scharf. »Und er will meine erst recht nicht.«
    Die heftigen Worte offenbarten seine tiefe Bitterkeit. Betrübt schüttelte Michael den Kopf. »Vielleicht gibt es ja noch mehr, was Sie nicht begreifen, John. Kann es sein, dass Ihr Vater Colette auch geliebt hat?«
    John schnaubte verächtlich. »Keine drei Monate nach ihrem Tod hat er meine Tante geheiratet. Sagen Sie mir, Michael: Ist das vielleicht Liebe?«
    Michael seufzte. Diese traurige Geschichte wurde immer schlimmer. Doch er unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Selbst wenn Sie Ihrem Vater jetzt noch nicht vergeben können«, sagte er stattdessen, »sollten Sie seine Vergebung annehmen. Fahren Sie Ihrem Bruder zuliebe nach Charmantes – und auch Ihren Schwestern zuliebe. Ich wette, dass sie begeistert wären, Sie wiederzusehen.«
    John überlegte. Er dachte an die Zeit auf der Insel und daran, wie reich sein Leben geworden war. Colettes Tod hatte ihn zutiefst getroffen, aber im Grunde nichts verändert, weil er sich längst mit einem Leben ohne sie abgefunden hatte. Selbst der Schmerz um Pierres Tod quälte ihn in letzter Zeit seltener. Da er die Existenz Gottes nicht völlig leugnete, tröstete ihn der Gedanke, dass Pierre jetzt wieder mit seiner Mutter vereint war. Er war entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Charmaine hatte recht behalten. Inzwischen konnte er sogar lachen, wenn er sich erinnerte, wie Pierre ihm Sand auf den Kopf gestreut hatte. Natürlich wären Yvette und Jeannette überglücklich, ihn wiederzusehen. Und Charmaine vielleicht auch. Wenn er ehrlich war, so lockte ihn das Wiedersehen mit ihr mehr als alles andere. Vielleicht hatte er ja Glück, und sie war noch nicht mit Paul verheiratet.
    »Wohin hat all dieser Kummer denn geführt, John?«, fragte Michael in die Stille hinein. »Ist es nicht an der Zeit, ihn zu begraben? Offenbar möchte Ihre Familie das, also warum nicht auch Sie? Die Zukunft wird vielleicht strahlender, als Sie das für möglich halten.«
    Mit einem Mal hatte John genug von dem Gerede. Aus Michaels Mund klang alles so einfach. Aber warum sollte er sich das wieder antun? »Ich denke darüber nach«, log er.
    Um ihn nicht weiter zu bedrängen, stand Father Michael auf und ging ins Vestibül hinaus.
    Missmutig folgte John ihm. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er den Priester zu seinem hastigen Aufbruch gedrängt hatte. »Sie wollen doch jetzt nicht nach Hause fahren? Die Sonne geht gleich unter.«
    »Ich habe eine Laterne an meinem Wagen.« Michael schlüpfte in seinen Mantel. »Außerdem bin ich unterwegs an einem Gasthof vorbeigekommen. Falls nötig, kann ich dort anhalten. Ich muss auf jeden Fall nach Richmond zurück.«
    John fürchtete, dass sein Freund im Begriff stand, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. »Könnte eine kleine Spende Sie vielleicht davon abhalten?«
    »Sie waren schon viel zu großzügig, John. Außerdem tut es mir gut, meinen Pflichten nachzukommen.«
    »Ihren Pflichten nachzukommen oder sich umzubringen?«
    Michael zog eine Braue in die Höhe. »Sehen Sie das so?«
    »Ich bin überrascht, dass Marie nicht besser für Sie sorgt und Ihnen ein bisschen mehr Muße verordnet«, bemerkte John augenzwinkernd. Als der Priester leichenblass wurde, erschrak er zutiefst. »Michael?«
    »Marie ist tot«, stieß der Priester hervor. »Ich dachte, dass Sie das wüssten, dass alle Welt es wüsste. Es ist schon zwei Jahre her.«
    » Tot? « John war entsetzt. Bei seinen kurzen Besuchen im Waisenhaus hatte er nie nach ihr gefragt, weil er davon ausgegangen war, dass sie wohlauf war und es ihr gut ging. Zwei Jahre hatte er Marie nicht mehr gesehen! Er war wütend auf sich selbst. War er so sehr mit seinem eigenen Elend beschäftigt, dass er sogar seine Freunde vergaß? Marie war seine Retterin, seine Vertraute gewesen, die ihm in der schlimmsten Zeit seines Lebens nach Pierres Empfängnis und Geburt beigestanden hatte. »Tot«, wiederholte er tonlos, als die Wahrheit langsam in sein Bewusstsein drang. »Was ist geschehen?«
    »Es war einfach entsetzlich …«, stammelte Michael.
    John schüttelte den Kopf. Er wusste, dass dieser Mann, dieser

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