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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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stattdessen begaben sich seine Gedanken auf Wanderschaft.
    Es war einige Monate her, seit er Johns leutseliges Gehabe durchschaut und die Verzweiflung in seinen Augen gesehen hatte. Seitdem war Michael beunruhigt und fühlte sich an ihre erste Begegnung vor viereinhalb Jahren erinnert. Warum war der Mann nach Hause zurückgekehrt? An den einzigen Ort auf Erden, wohin er nie wieder hatte zurückkehren wollen? Gib ihm Zeit. Du hast ihm auch damals Zeit gegeben … und er hat geredet …
    Michael schauderte unwillkürlich, als er an das Frühjahr 1834 zurückdachte. Sie kannten sich gerade sechs Monate, und John hatte Neuigkeiten von Charmantes erhalten. Beunruhigende Neuigkeiten. Er hatte es allein Marie Ryans Beharrlichkeit zu verdanken, dass er an jenem wunderschönen Frühlingstag zu Johns Stadthaus gefahren war und seine Beichte gehört hatte …
    »Hat Marie Sie geschickt?«, hatte John ihn halb betrunken empfangen. »Das war das letzte Mal, dass ich einer Frau etwas anvertraut habe.«
    »Sie hat überhaupt nichts gesagt , aber sie macht sich Sorgen.«
    John schnaubte nur, aber so leicht war Michael nicht zu beeindrucken. »John … wann sagen Sie mir endlich, was geschehen ist? Vielleicht kann ich ja helfen.«
    John trank einen Schluck und sah den Priester spöttisch an. »Ich will aber keine Beichte ablegen, Father .«
    »Ich rede nicht von Beichte, sondern von einem Gespräch unter Freunden.«
    John trank einen Schluck und starrte aus dem Fenster.
    »Sie sind nicht der Einzige auf der Welt, der etwas getan hat, worauf er nicht stolz ist«, bemerkte Michael, als die Stille allzu bedrückend wurde.
    »Ach wirklich?« Zweifelnd sah John ihn an. »Was könnten Sie denn schon Schlimmes getan haben? Vielleicht ab und zu am Messwein genippt?«
    Der Sarkasmus entlockte Michael ein Lächeln. »Ich beichte nur, wenn Sie es auch tun.«
    John zog eine Braue in die Höhe. »Das nenne ich einen Handel, Father.«
    Michael erstarrte. Nie hätte er gedacht, dass John den Köder annehmen würde.
    »Nun, Father?« John weidete sich an seiner Verlegenheit. »Ich warte …«
    Michael räusperte sich. »Als ich sehr viel jünger war …«
    John lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Nun?«
    »Ich habe das Gelübde der Keuschheit verletzt … und zwar mit einer Frau, die ich sehr geliebt habe …«
    Stille. »Ist das alles?« John schien enttäuscht.
    » Ist das alles? «
    John lachte leise und schüttelte den Kopf. »Wenigstens haben Sie eine Frau geliebt. Das macht neun Avemaria und drei Vaterunser.«
    Michael schmunzelte, doch er war nicht bereit, John aus seiner Pflicht zu entlassen. »Jetzt sind Sie an der Reihe.«
    John sah ihn durchdringend an und ließ mit einem Mal jede Zurückhaltung fahren. »Ich habe die Frau meines Vaters geliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Als ich meinem Vater die Augen geöffnet habe, hätten wir uns beinahe geprügelt, woraufhin er einen Anfall erlitt, der ihn zum Krüppel machte. Ich floh von der Insel und überließ Colette seinem Zorn. Ich hasste ihn so sehr, dass ich in Ihrer Kirche seinen Tod herbeigefleht habe, um mit ihr und meinem Kind allein zu sein …« Er schluckte hart und ließ ein bösartiges Auflachen hören. »Sagen Sie mir nur eines, Father: Geht es noch schlimmer?«
    Aber Michael blickte hinter die Fassade. »Sie lieben diese Frau, nicht wahr?«
    »Mehr als mein Leben«, gestand John freimütig und wandte sich ab, als ob er seinen Kummer dann besser beherrschen könne. »Mein Sohn wurde vor drei Wochen geboren … Pierre«, flüsterte er heiser. »Er heißt Pierre.« Nach einer langen Pause sah er über die Schulter zurück. »Sagen Sie, Father: Wird mir die Sünde vergeben werden, wenn ich es ertrage, den Jungen mein Leben lang nicht zu sehen?«
    »Ihnen wurde längst vergeben, John.«
    »Nein, Michael«, widersprach er heftig, fast zornig. »Man muss bereuen, wenn man Vergebung erlangen will. Doch ich bereue nichts. Colette hat mir gehört!«
    In dieser Nacht hörte Michael die ganze Geschichte und verabschiedete sich erst in der Morgendämmerung. John hatte geschworen, nie nach Charmantes zurückzukehren und Colette so leben zu lassen, wie sie es entschieden hatte. Er war bestraft genug, wenn er seinen kleinen Sohn nie in den Armen halten durfte, und für die Welt würde Pierre Duvoisin immer sein jüngerer Bruder sein. So hatte Colette entschieden, und daran wollte er sich halten.
    Trotzdem war John im letzten Sommer nach Charmantes zurückgekehrt.

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