Die Macht des Feuers
»Nye-berg läßt niemanden an sie heran, abgesehen von drei oder vier Schwestern und einigen anderen Ärzten. Er hat sogar zwei Männer vom Wachpersonal der Klinik vor der Tür ihres Zimmers postiert. Zwar tut er so, als ob es ihm nur um das Wohl seiner Patientin ginge, aber ich denke, in Wirklichkeit will er nur, daß außer ihm niemand von seiner Entdeckung profitiert.«
»Sie scheinen nicht viel von Dr. Nyeberg zu halten«, sagte Lilith.
»Nyeberg ist ein Arschloch«, erwiderte der Pfleger knapp.
Lilith grinste, nicht nur, weil sie das Gefühl hatte, daß dieser Bursche ihr sagen konnte, was sie wissen wollte: wo nämlich Dr. Nye-berg seine rätselhafte Patientin untergebracht hatte. Doch als sie gerade zum interessanten Teil des Gesprächs kommen wollte, erschien am anderen Ende der Eingangshalle plötzlich ein Typ im weißen Kittel und rief dem Pfleger zu: »Verflucht, Mark, wo stecken Sie, wenn man Sie braucht? In der Notaufnahme hat sich ein Besoffener erbrochen! Kümmern Sie sich darum, daß die Sauerei verschwindet!«
Mark winkte dem Kittelkerl zum Zeichen, daß er verstanden hatte, flüchtig zu. Dann wandte er sich wieder an Lilith und verdrehte demonstrativ die Augen.
»Dr. Bower«, erklärte er. »Assistenzarzt. Arschloch Nummer zwei.«
Lilith schmunzelte.
»Tja, ich fürchte, daß Sie mich jetzt entschuldigen müssen, Miss Eden«, sagte Mark. In seiner Stimme klang echtes Bedauern mit. »Leider ruft die Pflicht. Hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Lady.«
Lilith nickte. »Mich ebenfalls.«
»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder?«
»Wer weiß?« sagte Lilith und lächelte vieldeutig. »Möglich ist schließlich alles, nicht wahr?«
*
Zu dem Zeitpunkt, als Lilith ihren anfänglichen Plänen zufolge eigentlich bereits wieder im Flugzeug sitzen wollte, hockte die Halbvampirin statt dessen auf einer Bank in der Nähe des Haupteingangs des Krankenhauses und wartete darauf, daß die Spätschicht zu Ende ging - was, wie die kreuzworträtselnde Wilma ihr verraten hatte, um ein Uhr dreißig der Fall war.
Sie war sich sicher, daß sie von Mark erfahren würde, wo Dr. Nye-berg das »Vampirmädchen« untergebracht hatte, und wenn sie ihn außerhalb der Klinik abpaßte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach freiwillig damit herausrücken. Falls nicht, konnte sie immer noch ein wenig nachhelfen, um ihn von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen.
Es war fünf nach halb zwei, als Mark das Krankenhaus schließlich verließ. Er hatte seinen weißen Pflegerdress gegen Jeans, Stiefel und eine Lederjacke mit Fellkragen eingetauscht. Die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, ging er den Weg entlang in Richtung Straße.
Lilith wartete, bis er fast bei ihr war, bevor sie von der Bank aus sagte: »So sieht man sich wieder.«
Mark erschrak und wirbelte herum. Da die Bank halb hinter einer Hecke stand, hatte er sie nicht sofort gesehen. Doch als er Lilith erkannte, breitete sich auf seinem Gesicht ein erfreutes Lächeln aus. »Na, so was!« sagte er. »Miss Eden! Was machen Sie denn hier?«
Sie zuckte die Schultern. »Das weiß ich eigentlich selbst nicht so genau«, log sie. »Vielleicht wollte ich nicht so lange warten, bis das Schicksal dafür sorgt, daß wir uns erneut über den Weg laufen?«
»Wissen Sie«, erwiderte Mark und setzte sich neben ihr auf die Bank, »irgendwie habe ich gehofft, daß Sie das sagen, Miss Eden.«
Lilith lächelte. »Wenn das so ist«, meinte sie, »warum vergessen wir die Förmlichkeiten in diesem Fall nicht ganz einfach?« Sie schlug die endlos langen Beine übereinander, die in engen schwar-zen Leggins steckten (die in Wahrheit ein Stück gestaltwandleri-scher Symbiont waren).
»Soll mir recht sein«, erwiderte er. »Ich heiße Mark.«
»Ich weiß«, sagte Lilith.
Er runzelte gelinde verwirrt die Stirn. »Woher ...?«
»Dr. Bower«, erklärte Lilith. »In der Halle hat er dich mit deinem Namen gerufen.«
»Stimmt«, sagte Mark und nickte. »Arschloch Nummer zwei.«
»Wo wir gerade beim Thema sind«, nahm Lilith den Faden da auf, wo sie ihn vorhin in der Eingangshalle des West Medical Center verloren hatte, »glaubst du, daß es möglich ist, sich hinter Nyebergs Rücken im Untergeschoß umzusehen?«
Er legte den Kopf schief und sah sie ernst an. »Du willst sie unbedingt sehen, nicht?« fragte er. »Das Vampirmädchen?«
Sie nickte. »Wenn es geht ... Kannst du mir dabei helfen? Kannst du mich zu ihr bringen?«
Mark zögerte.
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