Die Macht des Lichts
fragte Cadsuane.
Min reagierte gereizt. »Weil die Theorie keinen Sinn ergibt. In Wirklichkeit hält Rand nur eine Krone. Das Argument wäre vielleicht von Wert, hätte er Tear nicht an Darlin weitergereicht. Aber diese Theorie stimmt nicht länger. Ich glaube, diese Passage hat etwas damit zu tun, wie er Callandor benutzen muss.«
»Ich verstehe«, sagte Cadsuane und blätterte die nächste Seite in ihrem Buch um. »Das ist eine sehr unkonventionelle Interpretation.« Beldeine lächelte schmal und wandte sich wieder ihrer Stickarbeit zu. »Natürlich habt Ihr völlig recht«, fügte Cadsuane dann hinzu.
Min schaute auf.
»Genau diese Passage hat mich darauf gebracht, Callandor zu untersuchen«, fuhr Cadsuane fort. »Mit viel Aufwand entdeckte ich, dass das Schwert nur von einem Zirkel aus drei Leuten vernünftig benutzt werden kann. Vermutlich geht es letztlich darum in dieser Passage.«
»Aber das würde andeuten, dass Rand Callandor irgendwann mit einem Zirkel benutzen muss«, sagte Min und las die Stelle erneut. Soweit sie wusste, hatte er das noch nie getan.
»Das würde es«, meinte Cadsuane.
Plötzlich verspürte Min Aufregung. Vielleicht ein Hinweis. Etwas, das Rand nicht wusste, das ihm vielleicht helfen würde! Aber … Cadsuane hatte es bereits gewusst. Also hatte Min doch nichts wirklich Entscheidendes entdeckt.
»Ich glaube«, sagte Cadsuane, »dass eine Anerkennung fällig ist. Schließlich darf man schlechte Manieren nicht tolerieren.«
Mit finsterer Miene schaute Beldeine von ihrer Arbeit auf. Dann stand sie abrupt auf und verließ das Zimmer. Ihr Behüter, ein junger Asha’man namens Karldin, eilte aus dem Nebenraum, durchquerte das Zimmer mit den Aes Sedai und folgte Beldeine in den Korridor hinaus. Cadsuane schnaubte nur und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Die Tür schloss sich, und Nynaeve warf Min einen Blick zu, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. Dieser Blick verriet Min eine Menge. Es ärgerte Nynaeve, dass sonst niemand nervös erschien. Es ärgerte sie, dass sie keine Möglichkeit gefunden hatten, irgendwie bei Rand und Tams Unterhaltung zu lauschen. Und offensichtlich hatte sie schreckliche Angst um Lan. Min verstand das. Sie empfand ähnlich für Rand.
Und … was war das für eine Vision, die plötzlich über Nynaeves Kopf schwebte? Sie kniete voller Trauer über einer Leiche. Einen Augenblick später war die Sicht auch schon wieder verschwunden.
Min schüttelte den Kopf. Diese Sicht konnte sie nicht interpretieren, also schob sie sie beiseite. Sie konnte nicht ihre Zeit mit dem Versuch verschwenden, sie alle zu ergründen. Zum Beispiel konnte das schwarze Messer, das kürzlich über Beldeines Kopf gewirbelt war, alles Mögliche bedeuten.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Buch. Also … Rand würde Callandor als Angehöriger eines Zirkels benutzen? Die drei wurden eins? Aber aus welchem Grund und mit wem? Wenn er den Dunklen König bekämpfen sollte, dann machte es doch für ihn keinen Sinn, einem Zirkel anzugehören, den ein anderer kontrollierte, oder?
»Cadsuane«, sagte sie. »Das stimmt immer noch nicht. Da gibt es noch mehr. Etwas, das wir noch nicht entdeckt haben.«
»Über Callandor?«, fragte die Frau.
Min nickte.
»Das vermute ich auch«, erwiderte Cadsuane. Wie seltsam, sie einmal offen sprechen zu hören! »Aber ich habe nicht feststellen können, was es ist. Würde der alberne Junge nur mein Exil zurücknehmen, könnten wir endlich weitermachen und wichtige Dinge …«
Die Tür wurde ungestüm aufgestoßen, was Merise zusammenzucken ließ. Nynaeve machte einen Satz zurück - die Tür hätte sie beinahe getroffen.
Auf der Schwelle stand ein sehr wütender Tarn al’Thor. Er starrte Cadsuane an. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«, verlangte er zu wissen.
Cadsuane senkte das Buch. »Ich habe nichts mit dem Jungen gemacht, außer ihn zu mehr Höflichkeit anzuhalten. Etwas, das andere Mitglieder dieser Familie anscheinend ebenfalls lernen sollten.«
»Hütet Eure Zunge, Aes Sedai«, knurrte Tarn. »Habt Ihr ihn gesehen? Bei seinem Eintreten schien sich der ganze Raum zu verfinstern. Und dieses Gesicht - ich habe schon mehr Gefühle in den Augen einer Leiche gesehen! Was ist mit meinem Sohn passiert?«
»Ich nehme also an«, sagte Cadsuane, »dass das Wiedersehen nicht wie erhofft verlaufen ist?«
Tarn holte tief Luft, und plötzlich schien die ganze Wut aus ihm zu entweichen. Er war noch immer energisch und schaute unzufrieden drein, aber der
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