Die Macht
hatten schon des Öfteren über die Vorzüge der beiden Länder diskutiert, wobei sie Frankreich den Vorzug gab, während sein Herz mehr für Italien schlug. Rapp wollte dafür sorgen, dass sie ihre Meinung vielleicht nach ihrer gemeinsamen Italien-Woche ein wenig änderte. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Frankreich viele Vorzüge besaß, die jedoch dadurch getrübt wurden, dass ihm die Menschen dort mitunter ein wenig arrogant erschienen.
In Italien war das jedenfalls ganz anders. Die Menschen dort waren offen und hilfsbereit gegenüber Ausländern, insbesondere Amerikanern. Ihr Taxifahrer war das beste Beispiel dafür. Während sie sich durch den zähen Stoßverkehr mühten, beschrieb er ihnen auf Englisch die verschiedenen Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorüberkamen. Zuerst war Anna ein wenig enttäuscht darüber gewesen, wie modern und industriell geprägt Mailand war, doch Mitch versicherte ihr, dass die Stadt ein anderes Gesicht zeigte, sobald man in ihr Herz vordrang.
Und Anna war tatsächlich beeindruckt. Als sie in die Via G. Mengoni kamen, wäre Anna am liebsten aus dem fahrenden Taxi gesprungen. Der Dom erhob sich so hoch über die Dächer der Stadt, dass sie sich weit aus dem Fenster lehnen musste, um ihn in seiner ganzen Pracht sehen zu können.
»O mein Gott!«, rief sie aus. »Ich glaube, das ist die schönste Kirche, die ich je gesehen habe.«
Der Taxifahrer nickte stolz. »Und eine der größten«, fügte er hinzu.
Anna betrachtete mit großen Augen das architektonische Juwel, während der Wagen langsam über die gepflasterte Straße rollte. »Wie heißt sie denn?«, wollte sie wissen.
»Das ist der Duomo!«
»Den muss ich unbedingt von innen sehen. Können wir das nicht jetzt gleich machen?«, fragte sie, zu Mitch gewandt.
Rapp lächelte angesichts ihrer unbändigen Neugier. »Es ist ja nicht weit von unserem Hotel hierher. Wir machen ein kurzes Nickerchen und spazieren dann gleich rüber.«
»Ein Nickerchen?«, fragte sie ungläubig. »Ich kann doch jetzt nicht schlafen! Ich bin viel zu aufgeregt dazu.«
Rapp schüttelte lächelnd den Kopf. Es war schön, sie so begeistert zu sehen. Vielleicht war es ja auch am besten so. Wenn sie den ganzen Tag unterwegs waren, würde sie bestimmt früh am Abend reif fürs Bett sein – dann konnte er sich mit Donatella treffen. Wenn alles glatt ging, würde er sofort die gewünschte Information bekommen, damit er die ganze Sache ein für alle Mal hinter sich bringen konnte. Während sie an der Galleria Vittorio Emanuele II vorüberkamen, war Rapp bereits zu der Einsicht gelangt, dass er sich etwas vormachte. Das, was er von Donatella zu erfahren hoffte, würde ihn nur noch tiefer in die ganze Sache hineinziehen. Donatella war nur ein Glied in der Kette, die möglicherweise sehr lang war. Rapp würde sich ernsthaft überlegen müssen, ob es nicht besser war, sich zurückzuziehen und es anderen zu überlassen, das Problem zu lösen. Anna küsste ihn auf die Wange, während das Taxi über das alte Kopfsteinpflaster rollte. Mitch schob seine trüben Gedanken beiseite und zwang sich zu einem Lächeln. Vielleicht würde ja alles ganz einfach werden. Vielleicht konnte Donatella all seine Fragen beantworten und ihm erklären, warum ihn in Deutschland jemand hatte beseitigen wollen. Mitch wandte sich zur Seite, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Solche Dinge waren niemals einfach, und das war auch einer der Gründe, warum er aus dem Geschäft aussteigen musste.
Die Alitalia-Maschine rollte am Flughafen Linate ans Gate. Die Maschine war kurz nach neun Uhr vormittags von Rom gestartet und knapp eineinhalb Stunden später auf dem Mailänder Flughafen angekommen. Mitten unter den Geschäftsleuten, die in großer Zahl aus der Maschine ausstiegen, befand sich auch ein unscheinbarer Mann, der aufmerksam zu der Gruppe von Menschen hinüberblickte, die auf die Ankunft des Flugzeugs gewartet hatten; er achtete jedoch darauf, nicht allzu interessiert zu wirken, um in keiner Weise aufzufallen. Er trug eine olivbraune Hose, ein hellblaues Hemd und ein blaues Sportsakko. Seine durchdringenden Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er den Mann, mit dem er sich treffen würde, in der Menge erspähte – doch anstatt sofort auf ihn zuzugehen, blieb er in der Gruppe, die auf das Flughafengebäude zustrebte. Es war dies schon der zweite Flug, den Marc Rosenthal an diesem Tag hinter sich gebracht
Weitere Kostenlose Bücher