Die Macht
wieder einmal die Sirenen heulen hörte. Sie hatte solche Angst gehabt, dass ihr Daddy nicht mehr nach Hause kommen würde, und sich unter Tränen vorgestellt, dass sie ihn nie Wiedersehen würde. Ihre Eltern taten, was sie konnten, um ihr und ihren Brüdern die Angst zu nehmen, doch die Sorge war immer da. Chicago war eine große Stadt mit einer hohen Verbrechensrate, eine Stadt, in der man als Polizist ein gefährliches Leben hatte.
Anna liebte ihren Vater sehr. Zwei ihrer Brüder waren in seine Fußstapfen getreten und heute als Streifenpolizisten tätig, während ihr dritter Bruder, sozusagen das schwarze Schaf der Familie, Anwalt geworden war.
Anna hatte sich immer geschworen, dass sie niemals einen Polizisten heiraten würde. Obwohl ihre Eltern eine gute Ehe führten, hatte Anna auch immer wieder mitbekommen, dass Freunde ihres Vaters in ihren Ehen scheiterten, woran nicht zuletzt der Stress dieses Berufes schuld war. Und Mitchs Job, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war noch weitaus schlimmer. Cops waren dazu da, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Gewiss mussten sie manchmal zur Waffe greifen, doch es kam nur selten vor, dass sie tatsächlich auf jemanden schossen – und wenn, dann für gewöhnlich nur, wenn jemand auf sie schoss. In diesen dunklen Momenten des Zweifels musste sich Anna eingestehen, was Mitch Rapp in Wirklichkeit war. Er war ein Killer. Wenn er zur Arbeit ging, dann tat er es oft genug mit dem Vorsatz, jemanden zu töten. Er wartete nicht erst, bis jemand auf ihn feuerte – er ging schon mit gezogener Waffe in den Einsatz.
Sie blickte zur Tür hinüber und wünschte sich, er würde endlich hereinkommen, bevor sie ihre Gedanken noch weiter in diese Richtung schweifen ließ. Sie wünschte sich, dass er sie in die Arme nehmen und ihr versichern würde, dass er soeben seinen allerletzten Auftrag erledigt hatte. Dass er mit dem Töten endgültig abgeschlossen hatte und nun einen Schreibtischjob in Langley übernehmen würde. Sie hielt das Glas so fest in ihrer schweißnassen Hand, dass sie das Gefühl hatte, es könnte gleich zerbrechen. Schließlich hob sie das Glas an die Lippen und trank ihren zweiten Drink in einem Zug aus. Dann stand sie auf, um sich noch einen einzuschenken; während sie zur Bar hinüberging, betete sie, dass Mitch sie nicht enttäuschen würde. Sie wollte keine Nächte voller Sorge mehr erleben, in denen sie sich immer wieder fragen musste, ob er schon auf dem Weg nach Hause war oder vielleicht gar nicht mehr lebte.
Der Mann stöhnte auf und begann sich zu rühren. Rapp riss sich das Headset vom Kopf und warf es auf den Autositz. Er drückte dem Mann mit einer Hand die Pistole an die Schläfe und öffnete mit der anderen seinen Gürtel und seine Hose. Dann packte er ihn am Kragen seiner Jacke, zerrte ihn aus dem Wagen und knallte ihn gegen die hintere Tür. Er hatte bereits seine Brusttasche nach Papieren durchsucht, aber nichts gefunden. Rapp nahm das als Zeichen dafür, dass der Mann kein Polizist war.
»Für wen arbeitest du?«, fragte Rapp auf Italienisch. Der Mann sah ihn benommen an und sagte ihm, dass er sich zum Teufel scheren solle. Ohne zu zögern, riss Rapp das Knie hoch und versetzte ihm einen wuchtigen Stoß zwischen die Beine. Der Mann kippte vornüber, doch Rapp hielt ihn aufrecht und drückte ihn gegen den Wagen.
Rapp wiederholte die Frage, worauf ihm der Kerl ins Gesicht spuckte. Rapp holte mit dem Kopf kurz aus und versetzte ihm einen Stoß gegen die Nase, die augenblicklich brach und stark zu bluten begann.
Rapp packte den Mann erneut am Kragen, wirbelte ihn herum und riss ihm die Jacke herunter, sodass er die Arme nicht mehr bewegen konnte. Dann schob er ihn vorwärts und ging mit ihm über die Straße auf Donatellas Wohnung zu. Der Mann stöhnte vor Schmerz und spuckte Blut aus dem Mund. Seine offene Hose rutschte herunter, und er hielt sie mit einer Hand fest.
»Weitergehen«, befahl Rapp und drückte ihm die Pistole gegen die Wirbelsäule. Eine falsche Bewegung, und der Mann würde nie wieder gehen können. Mit seiner freien Hand drückte Rapp die Wahlwiederholung seines Handys und hörte das Klingeln in seinem Ohrhörer.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis sich Donatella endlich meldete. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Rapp.
»Nein«, antwortete sie mit gequälter Stimme.
»Halt durch. Ich bin schon unterwegs. Kannst du mich reinlassen?«
»Ja.«
Rapp schob den Mann vorwärts. »Los, weitergehen.« Als sie zur
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