Die Macht
gerade in Washington war. Sie war noch nicht wach genug, um es ausrechnen zu können, und schob den Gedanken beiseite. Schließlich war sie hier in Italien, um das Leben zu genießen und hoffentlich ein ganz neues Leben zu beginnen. Zeit spielte in den nächsten sechs Tagen keine Rolle. Sie würde schlafen, wenn ihr danach war, sie würde essen, wenn sie Lust dazu hatte, und mit dem Sex würde es nicht anders sein.
Als sie aus der Dusche kam und sich abtrocknete, warf sie trotz ihres Vorsatzes doch wieder einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war mittlerweile 21.20 Uhr, und sie musste sich eingestehen, dass Zeit nun einmal eine wesentliche Rolle in ihrem Leben spielte. In ihrem Beruf schaffte sie es sehr wohl, ihre Termine einzuhalten und stets pünktlich zu sein – nur privat wollte es ihr nicht so recht gelingen. Dieser Punkt führte auch immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen ihr und Mitch. Aus verständlichen Gründen machte er sich jedes Mal Sorgen, wenn sie sich verspätete. Er selbst kam nur selten zu spät – und wenn, dann rief er verlässlich an. Sie hingegen verspätete sich so gut wie immer – und das brachte Mitch zur Verzweiflung. Nun jedoch begann sie zu verstehen, wie er sich fühlen musste, wenn er auf sie wartete. Es wäre auch nicht so schlimm gewesen, wenn Mitch als ganz gewöhnlicher Tourist hier in Italien wäre, doch so war es nun einmal nicht.
Sie stand vor dem Spiegel und begann sich von Kopf bis Fuß mit Feuchtigkeitscreme einzureiben. Sie rieb immer heftiger, und als sie zu den Füßen kam, war sie so richtig wütend auf Mitch, dass er sie so lange warten ließ – aber auch auf sich selbst, weil sie sich dadurch so sehr aus der Ruhe bringen ließ. Um sich die Zeit zu vertreiben, zog sie sich erst einmal an. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie zum Abendessen gehen würden, und so entschied sie sich für eine schicke Hose mit einer hauchdünnen grauen Bluse. Als sie sich fertig angekleidet hatte, war es schon fast zehn Uhr.
Nachdem sie nicht recht wusste, was sie noch tun sollte, öffnete sie die kleine Bar, um sich einen Wodka-Tonic zu genehmigen. Anna überlegte, ob sie ihren Drink im Zimmer oder draußen auf dem Balkon zu sich nehmen sollte. Das Four Seasons-Hotel hatte einen wunderschönen Innenhof. Vom Balkon ihres Zimmers aus konnte sie auf die Leute hinunterblicken, die auf der Terrasse bei Kerzenlicht zu Abend aßen. Ein junges Paar, ungefähr in ihrem Alter, begann zu den Klängen eines Streichquartetts zu tanzen. Es herrschte eine zutiefst romantische Stimmung, was sie im Moment nur noch mehr bedrückte. Sie ging wieder hinein und schenkte sich noch einen Drink ein.
Schließlich setzte sie sich vor den Fernseher und schaltete ihn ein. Sie starrte auf den Bildschirm, bekam jedoch kaum etwas von dem mit, was vor ihr ablief. Sie war mit trübsinnigen Gedanken beschäftigt. Sie überlegte, ob sie nicht gerade dabei war, einen schweren Fehler zu begehen. Warum sollte sich eine Frau freiwillig für den Rest ihres Lebens einem solchen Stress aussetzen?
Die Zweifel wurden immer stärker, und sie fragte sich, was sie sich bloß dabei gedacht hatte, als sie sich in Mitch Rapp verliebte. Nun, es gab eine ganze Reihe von Gründen. Er war ein unglaublich sanfter und einfühlsamer Mann, vor allem, wenn man bedachte, womit er sein Geld verdiente. Außerdem war er ohne Übertreibung der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war. Er sah auf seine Weise sehr gut aus und war außerdem eine reife Persönlichkeit. Und er war ein Liebhaber, wie sie noch nie einen kennen gelernt hatte. Wenn sie miteinander schliefen, kam es ihr vor, als wären ihre Körper füreinander geschaffen. Außerdem hatte er ihr und vielen anderen Menschen das Leben gerettet. Er war ein großartiger Mensch, doch er hatte auch seine Fehler – besser gesagt, vor allem einen großen Fehler.
Anna Rielly wusste genau, wie es war, in einem Haus zu leben, in dem man sich ständig Sorgen machen musste, ob ein Mensch, der einem viel bedeutete, nach der Arbeit auch wieder gesund nach Hause kommen würde – oder ob nicht eines Tages der beste Freund des Vaters an die Tür klopfen würde, um ihnen mitzuteilen, dass ihr Dad in Ausübung seiner Pflicht sein Leben geopfert hatte. Annas Vater hatte sich vor kurzem nach dreißig Jahren Dienst im Police Department von Chicago zur Ruhe gesetzt. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen abends oft lange wach gelegen und sich Sorgen gemacht hatte, weil sie
Weitere Kostenlose Bücher