Die Mächte des Feuers
und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Wenn du es nicht erträgst, ihm zu dienen, dann geh. Die Tore des Palasts lassen sich leicht öffnen.« Xing wandte sich um und verließ das prächtige Schlafzimmer.
Maxim folgte ihr durch den prunkvollen Herrschaftssitz, vorbei an den Gemälden bekannter Maler. Sein Blick fiel auf ein Werk von Caspar David Friedrich; er hatte den Stil von der Audienz beim Zaren her wieder erkannt, der einige Bilder des Deutschen besaß. Bezeichnenderweise hieß es Die gescheiterte Hoffnung.
Natürlich hatte er sich Gedanken über eine Flucht gemacht, er war studierter Botaniker und ein mehrfach vom Zaren ausgezeichneter Bergsteiger, der sich vor einem Abstieg nicht fürchtete. Doch die dünne Luft machte jede Bewegung zu einer Qual; er hielt sich noch nicht lange genug in der Höhe auf, um sich daran gewöhnt zu haben.
Außerdem waren ihm Seile, Haken, Eispickel und Steigeisen weggenommen worden. Ohne die Sicherheit einer Gruppe käme das Fluchtvorhaben einem Selbstmord gleich.
Maxim hatte noch keine Antwort auf die Frage gefunden, was ihm besser gefiel: von einem launischen Tyrannen getötet zu werden oder an den Hängen zu erfrieren.
Die Kälte in den sicher sieben Meter hohen und fünf Meter breiten Gängen brachte ihn trotz der Mäntel zum Frösteln. Anstelle von nackten Felswänden schritten sie an hübsch anzusehendem Backsteinmauerwerk vorbei; die Kabel der elektrischen Lampen waren geschickt dahinter verborgen worden. An den Wänden hingen weitere Bilder von Malern, die Maxim nicht kannte, und er gab sich für einen Augenblick der schönen Illusion hin, dass er in der Eremitage flaniere statt im Innern eines Palastes, der auf dem Dach der Welt lag.
Xing betrat eine der Schatzkammern, Maxim trottete hinter ihr her.
Der zwanzig mal zwanzig Meter große Saal lag auf der Südseite. Kleine Fenster befanden sich hoch oben in der Decke; hier ging es weniger um Aussicht als um das, was sich zwischen den vier Wänden verbarg. Die Anordnung der Felsdurchbrüche leitete die Sonnenstrahlen zu exakt ermittelten Punkten, an denen sich die größten Schätze befanden.
Maxim sah vierzig antike Statuen, die aus einem griechischen Tempel gestohlen worden waren, wie er von dem Tyrannen selbst gehört hatte. Aus weißem Marmor gehauen und vollendet bearbeitet, zeigten sie Götter und Helden im Kampf gegen Ungeheuer aus der Sagenwelt; um die Statuen und Standbilder herum waren echte Goldmünzen und Edelsteine drapiert worden, und aus dem steinernen Füllhorn quollen Diamanten, Goldklumpen und Silberbrocken.
Das Licht umschmeichelte die Statuen, brachte sie zum Leuchten und gab ihnen den Anschein, als handele es sich um versteinerte Wesen, die jeden Augenblick aus ihrer Starre erwachen, von ihren Podesten steigen und sich nach den Schätzen zu ihren Füßen hinabbeugen würden.
»Ist es nicht herrlich?« Xing nahm ein Tuch aus ihrem Mantel und polierte die Goldauflagen an der Statue des Ares. »Mach dich nützlich«, riet sie ihm freundlich. »Der Herr wird es gerne hören, wenn ich ihm sagen kann, dass du mir heute die meiste Arbeit abgenommen hast.«
»Wer hat das alles errichtet?« Maxim verspürte keine Lust, sich bei dem Tyrannen beliebt zu machen. »Wer schuftete für ihn, damit er kaiserlicher als der Zar leben kann?«
»Menschen wie ich, die ihm gerne dienten, und Menschen wie du, Bergsteiger, die es wagten, in sein Gebiet einzudringen.« Xings Bemühungen ließen das Gold strahlen und schimmern.
»Es muss Jahrhunderte in Anspruch genommen haben.« Maxim konnte nicht anders, als den Palast und die Leistung derer, die ihn erbaut hatten, zu bewundern.
»Warum auch nicht? Der Herr hat alle Zeit der Welt. Die Vergänglichkeit kümmert ihn nicht.« Die Chinesin lächelte selig wie eine tief Gläubige, der soeben eine Erscheinung widerfahren war, und rieb mit dem Tuch voller Hingabe über die silbernen Sandalen der Statue.
Maxim schenkte ihr einen verächtlichen Blick. Er verstand sie nicht und rechnete nicht damit, dass sie sich einem Fluchtversuch anschloss, doch er war sich sicher, dass es unter den vierzig anderen Menschen in diesem Palast welche gab, die ihn begleiten würden. Nicht alle dachten so merkwürdig über eine Entführung wie Xing. Er fühlte Erleichterung, als ihm bewusst wurde, dass er seine Entscheidung zur Flucht getroffen hatte, mochte sie auch aussichtslos erscheinen. Petersburg wartete auf ihn, seine Freunde warteten auf ihn, und der Zar musste zudem von
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