Die Maechtigen
Mädchen.«
»Welches Mädchen?«, erkundigte sich der Typ von der Security. Er hatte ein Mondgesicht und buschige Augenbrauen.
»Das Mädchen«, sage ich. »Hier soll ein Mädchen warten.«
Er sieht sich im Empfangsbereich um. Durch die verblichenen grünen Regenmatten und die graue Mauer wirkt der Bereich wie eine Gruft. Auf der rechten Seite stehen der Metalldetektor und der Röntgenapparat. Aber außer einigen Angestellten, die gerade ihre Ausweise zücken, sehe ich nur die beiden Männer von der Security.
»Ich sehe niemanden«, meint der Wachmann.
»Es hat mich vorhin jemand angerufen«, beharre ich. »Sie muss eben noch hier gewesen sein; schwarzes Haar, nette Augen. Sie ist wirklich …«
»Die Hübsche!«, kommt uns der Wachmann bei dem Röntgenapparat zu Hilfe.
»Braue« schaut sich um.
»Sie wissen nicht, wo sie geblieben ist, oder?«, dränge ich ihn.
»Ich glaube, ich habe sie ins Besucherbuch eingetragen. Sie hat da drüben gewartet.« Er zeigt auf eine Bank.
Seine Ratlosigkeit überrascht mich nicht. Sie haben bei mir und Totte heute Morgen vielleicht ausnahmsweise alles gegeben, ansonsten jedoch ist unsere Security-Abteilung ungefähr so auf Zack wie Orlandos alter Videorekorder. Normalerweise brauchen wir am Eingang nicht einmal unsere Ausweise durch das Lesegerät zu ziehen. Besonders beim morgendlichen Ansturm nicht; gerade in diesem Moment geht eine schlaksige Frau in einem riesigen Wintermantel mit ihrem Ausweis auf den Wachmann zu, wedelt damit kurz in der Luft und … passiert die Kontrolle.
»Ich schwöre es, sie war genau dort«, wiederholt der Security-Mann.
Ich schaue mir die Besucherliste auf dem Marmortresen an. Ihre Unterschrift sieht noch genauso aus wie auf der Highschool. Ein müheloser Bogen. Clementine Kaye.
» Vielleicht hat sie ja schon jemand abgeholt«, schlägt der Wachmann am Röntgengerät vor.
»Niemand kann sie abgeholt haben. Ich bin derjenige, auf den sie gewartet …« Nein. Es sei denn … Nein. Nicht mal Khazei ist so schnell.
Ich hole mein Handy aus der Tasche, suche Clementines Nummer und drücke auf die Ruftaste. Das Telefon klingelt dreimal. Nur ihr Anrufbeantworter geht ran. Aber irgendwo in der Nähe höre ich das Klingeln eines Handys.
»Clementine …?« Ich folge dem Klingelton, gehe am Tisch der Wachleute vorbei zum Inforaum, wo die meisten Besucher ihre Nachforschungen beginnen. Das wäre logisch. Ich habe sie so lange warten lassen … Vielleicht ist sie ja hergekommen, um noch mehr über ihren Vater herauszufinden.
Ich drücke wieder auf die Ruftaste . Wie schon zuvor höre ich ein leises Klingeln. Es ist ganz in der Nähe . Es kommt bestimmt von hier irgendwo.
Ich werfe einen Blick in den pfefferminzgrün gestrichenen Leseraum und überprüfe die vier mit Büchern bedeckten Tische. Ich betrachte die üblichen Verdächtigen: In der linken Ecke füllen zwei ältere Frauen Formulare aus. Rechts von mir erkundigt sich ein Veteran nach bestimmten Dokumenten, ein junger Student geht irgendwelche Ahnentafeln durch und …
Da.
Ganz hinten, bei den Computern.
Sie starrt vorgebeugt auf den Bildschirm; ihr Mantel liegt quer auf ihrem Schoß. Im Unterschied zu gestern hat ihr kurzes schwarzes Haar heute in zwei Zöpfe geteilt, ein ultraangesagter Stil bei jungen Mädchen. Ich denke sofort daran, wie alt ich mich fühle, seit sie wieder in mein Leben getreten ist und ich angefangen habe, nach Rap-Musik statt nach Kenny-Rogers-Stücken zu suchen.
»Clemmi, was machst du denn hier?«, erkundige ich mich, als ich den hinteren Teil des Raumes erreiche.
Sie antwortet nicht.
Dann komme ich näher … und sehe, was sie sich auf dem Bildschirm anschaut. Etwas auf YouTube …
Es gibt Videofilme in meiner Familie, die ich jederzeit wiedererkenne, selbst wenn nur ein winziger Ausschnitt auf dem Bildschirm zu sehen ist. Zum Beispiel dieser Film von meinen beiden Schwestern und mir; die beiden sitzen nebeneinander auf dem Plastiksofa im Krankenhaus und halten mich als Baby auf ihrem Schoß. Auf einem anderen bin ich zehn und an Halloween als Ronald Reagan verkleidet. Inklusive einer Perücke, von der meine Mutter steif und fest behauptete, es wäre eine Ronald-Reagan-Perücke. In Wirklichkeit war es aber nur eine ausgemusterte Haartracht von Fred Feuerstein. Dann gibt es die Videokassette mit meinem Vater, eine der wenigen Aufnahmen, die ich von ihm habe. Ich bin zwei Jahre alt, wir sind im Pool, und er hält mich hoch über seinen Kopf. Dann lässt er
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