Die Maechtigen
rekordverdächtig beschissen sogar. Aber es ist wenigstens eine Antwort.« Sie drückt mir das Geschenk wieder in die Hand. »Und das weiß ich zu schätzen.«
Ich schaue auf das Geschenk und ziehe an dem Klebeband. Ich reiße das Papier ab und fördere so etwas wie die Rückseite eines Bilderrahmens zutage. Es ist definitiv ein Bilderrahmen. Dann drehe ich es um.
Das Bild ist ein Farbfoto von mir in der siebten Klasse, als meine Mutter mir immer diese Hemden mit Tiermotiven gekauft hat. So eines trage ich an jenem Tag. Aber noch auffälliger ist das Mädchen aus der siebten Klasse, das mit einem breiten Lächeln und blitzenden, etwas vorstehenden Zähnen neben mir steht. Die junge Clementine.
Die Sache ist die, dass wir damals nie ein Foto von uns hatten.
»Woher … woher hast du das?«, erkundige ich mich.
»Ich habe es aus unserem alten Klassenfoto aus Mrs. Spicers Klasse ausgeschnitten. Du standst ganz links, ich rechts. Ich habe uns mit einem Papiermesser herausgeschnitten, weil ich seit diesem Film mit Tim Burton keine Scheren mehr anfasse, deswegen sind unsere Köpfe etwas eckig geworden. Tut mir leid.«
Ich betrachte das Foto. Wir halten beide unsere Arme eng am Körper, die klassische Positur auf Fotos. Unsere Köpfe sind wirklich achteckig.
»Gefällt es dir nicht?«, fragt sie.
»Doch, ich mag es … es gefällt mir. Schade nur, dass du das Originalfoto zerstören musstest.«
»Ich habe nichts zerstört«, sagt sie. »Ich habe nur die einzigen beiden Menschen aus dieser Klasse, an denen mir etwas lag, herausgeschnitten.«
Ich schaue auf Clementine, dann wieder zu dem Foto; es ist zusammengestückelt, schlecht gemacht und nicht gerade schmeichelhaft.
Aber es ist ein Foto von uns.
Ich muss so sehr lächeln, dass mir fast die Wangen wehtun.
»Übrigens solltest du dir nichts auf das Hemd mit dem Tier einbilden«, sagt sie. Die Aufnahme von YouTube auf dem Bildschirm hinter ihr läuft unterdessen weiter. Clementine sitzt mit dem Rücken zum Bildschirm, kann es also nicht sehen. Jetzt kommt gerade die Szene, in der Nico aus der Menge hervortritt.
»Hör zu, ich muss jetzt schnell los«, sagt sie noch, als der Mann mit wirrem schwarzem Haar, einer riesigen Knollennase und dem hellgelben Overall ins Bild tritt und die Pistole hebt. Mein Gott, er ähnelt ihr wirklich. »Sie haben mir gesagt, ich sollte in einer Stunde wiederkommen«, meint sie.
»Wer hat das gesagt? Wovon sprichst du überhaupt?«
»Die Wachleute. Im St.-Elizabeth-Krankenhaus.«
»Moment mal. Sprichst du von der psychiatrischen Klinik St. Elizabeth?«
»Nico ist dort. Genau wie John Hinckley, du weißt schon, der Kerl, der auf Reagan geschossen hat. Sie liegt nur zehn Minuten von hier entfernt.«
»Können wir mal kurz eine Sekunde zurückspulen? Du hast Nico besucht?«
»Sie lassen mich nur rein, wenn er es akzeptiert. So sind die Vorschriften auf seiner Station. Und ich warte noch auf seine Zustimmung.«
»Aber er ist …«
»Ich weiß, wer er ist; aber was soll ich machen, Beecher? Zu Hause sitzen und mir die Fingernägel lackieren? Ich warte seit dreißig Jahren darauf, diesen Mann zu treffen. Wie könnte ich da nicht …?«
Pop, pop, pop.
Die Schüsse auf dem Video hinter ihr sind gedämpft. Als Nico sich aus der Menge löst, hält er den Kopf leicht geneigt … und er lächelt beinahe.
Pop, pop, pop.
Clementine steht immer noch mit dem Rücken zum Monitor und dreht sich auch bei den Schüssen nicht um. Aber sie zuckt zusammen, sichtbar, bei jedem einzelnen Schuss.
»Es wird geschossen!«, schreit ein Agent.
»Deckung … zurück …! «
»GOTT GAB DEN PROPHETEN DIE MACHT …!«, ruft Nico, aber seine Stimme geht in dem allgemeinen Kreischen unter.
Die Kamera bewegt sich ruckartig in alle möglichen Richtungen, zeigt dann auch die Zuschauer auf der Tribüne. Sie laufen aufgescheucht umher. Bis die Kamera wieder zum Ort des Geschehens zurückgeschwenkt hat, wird Nico bereits unschädlich gemacht. In dem allgemeinen Chaos reißen mehrere Secret-Service-Agenten ihn zu Boden. Im Hintergrund sieht man zwei Assistenten, die von Streifschüssen getroffen wurden. Einer liegt mit dem Gesicht auf dem Boden und hält sich die Wange. Glücklicherweise können der Präsident und seine Frau unverletzt in ihrer Limousine entkommen. Erst später ist es Nico gelungen, sie wieder aufzuspüren und die First Lady zu töten.
Rechts unten am Bildschirm sehe ich, wie oft dieses YouTube-Video aufgerufen wurde.
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