Die Maechtigen
Stunden hat Clementine mehrfach ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie erinnert mich daran, dass sie Schmerz nicht verarbeitet, sondern ihn versteckt.
Ich habe soeben den Attentäter eines früheren Präsidenten besucht. Clementine dagegen hat zum ersten Mal ihren Vater gesehen.
»Weißt du«, sage ich, »wenn ich von meinem Vater träume, geht unser Wiedersehen immer vollkommen ruhig und reibungslos vonstatten.«
»Bei mir auch.« Sie spricht leise, bringt die Worte kaum über die Lippen.
Ich nicke und komme mir irgendwie unsensibel vor. Mir hätte klar sein müssen, was dieser Besuch in ihr auslösen würde, aber ich war zu sehr mit den Gespenstergeschichten vom Culperring beschäftigt und diesem Benedict Arnold.
»Tut mir leid, dass ich dir diese unangenehme Überraschung bereitet habe«, sage ich zu ihr.
Sie winkt ab. Sie hat jetzt ganz andere Probleme.
»Was hat er gesagt?«, frage ich, als ich auf die schlecht geräumte Martin Luther King Jr. Avenue einbiege. Clementine sieht die mit Gang-Graffiti übersäten Geschäftsfassaden und die zwei ausgebrannten Autos rechts von uns überhaupt nicht. Sie starrt nach hinten, aus dem Heckfenster, kann den Blick immer noch nicht vom Krankenhaus losreißen. »Als du ankamst, machte er da einen …? War er froh, dich zu sehen?«
»Wir können über alles reden, sogar über Benedict Arnold, aber bitte nicht über ihn .«
»Schon kapiert, Clemmi. Wirklich. Ich will dich auch nicht drängen, aber denk trotzdem kurz mal darüber nach, was gerade passiert ist. Ich meine, ganz gleich, wer er ist, ich würde immer noch meinen linken Arm opfern, wenn ich auch nur dreißig Sekunden mit meinem Vater …«
»Beecher, bitte! Du sollst ihn nicht so nennen«, fleht sie mich an. »Und schon gar nicht, wenn er dabei ist.«
Ich tue so, als würde ich auf die Straße schauen. Aber irgendwie hängt ihr letzter Satz in der Luft …
Wenn er dabei ist.
Clementine zieht die Knie heran und krümmt sich, immer heftiger, während sie versucht, die Beherrschung zu behalten.
»Du hast es ihm nicht gesagt, habe ich recht?«, erkundige ich mich schließlich.
Sie antwortet nicht.
»Er weiß nicht, dass er dein Vater ist.«
»Ich wollte es ihm sagen«, gibt sie schließlich zu, während sie unverwandt aus dem Heckfenster starrt. »Aber dann …« Sie schüttelt den Kopf. »War dir eigentlich klar, dass er sich mit der toten First Lady unterhält? Als wir beim ihm waren, hat er ihr etwas zugeflüstert. Ich habe es in einem Artikel gelesen. Ich glaube, er hält es vor den Pflegern geheim. Laut den Psychologen ist das der verzweifelte Versuch, mit seinem letzten Opfer zu reden, um sich von der Schuld freizusprechen.«
Darüber muss ich erst einmal nachdenken und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Trotzdem, eins ergibt keinen Sinn. »Wenn du den Leuten nicht gesagt hast, dass du seine Verwandte bist, wie bist du dann überhaupt reingekommen?«
»Ich habe mich als Doktorandin ausgegeben. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich meine Dissertation über komplexe Psychosen schreibe«, erwidert sie.
»Und da haben sie dich einfach so zu ihm gelassen?«
»Darüber entscheiden nicht die Ärzte, sondern der Patient selbst. Vergiss nicht, dass zehn Jahre vergangen sind. Nico bekommt nicht mehr viele Besuche. Er lässt so ziemlich jeden zu sich, ganz gleich, wer es ist.«
»Aber du warst so nah am Ziel und hast doch nichts gesagt …«
»Und dafür solltest du mir dankbar sein«, fällt sie mir ins Wort. »Sonst hätte er mich wahrscheinlich Martha Washington genannt.«
»Sehr witzig. Ich glaube, darüber kann ich sogar lachen.«
»Natürlich kannst du das. Du versuchst, dich bei mir einzuschmeicheln. Ein klassischer Benedict-Arnold-Schachzug.«
Ich schüttele den Kopf, verblüfft, wie sehr mir der Witz unter die Haut geht. »Clemmi … du weißt, dass ich dich niemals verraten würde.«
Sie sieht mich an und lächelt mir anerkennend zu. »Beecher, warum machst du das?«
»Was?«
»Abgesehen von diesen E-Mails in den letzten Monaten haben wir seit fünfzehn Jahren keinen Kontakt gehabt. Du warst so süß damals auf der Highschool, ruhig, schlau und schüchtern, aber wir haben uns nie viel gesehen. Außerdem hast du in deinem Büro den Chef der Security am Hals, der dir unbedingt einen Mord anhängen will. Also, warum bist du hierhergekommen? Warum bist du so nett zu mir?«
Ich umklammere das Lenkrad und sehe starr geradeaus, als müsste ich unbedingt auf die Straße achten.
»Sie war meine
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