Die Maechtigen
haben«, flehe ich ihn an.
»Keine Chance«, erwidert er. »Ich bin mit den Originalbriefen von Thomas Jefferson beschäftigt. Dallas braucht sie morgen für die Ausstellung.«
Clementine wartet. Also muss ich sofort die großen Geschütze auffahren.
Ich ziehe das Wörterbuch aus meiner Hose und halte es ihm vor die Nase. »Schlägt Washington immer noch Jefferson?«, erkundige ich mich herausfordernd.
Er betrachtet eingehend das zerfledderte Wörterbuch. Vor zehn Jahren hat ein Mann in Rhode Island in einem alten Familienjournal die Originalnoten für das Star Spangled Banner gefunden, zusammengefaltet und offenbar darin festgeklebt. Boeckman hat einen einzigen Blick auf die Handschrift des Bogens geworfen und sofort die Fälschung erkannt. Was ihn nicht davon abgehalten hat, den Säuregehalt des Papiers festzustellen, das Dokument vollständig aus dem Journal zu entfernen und sogar die Tintenflecke auf der Seite wieder herzustellen, ohne dass es am Ergebnis etwas geändert hätte. Wenn es um die Konservierung alter Dokumente geht, gibt es keinen besseren als »Diamond«.
»Diese Bindung ist fantastisch. Echte Handarbeit«, sagt er und nimmt das Wörterbuch so ehrfürchtig in die Hand, als wäre es die Gutenberg-Bibel. »Was nicht heißt, dass es automatisch George Washington gehört hat.«
»Das ist auch nicht das, was ich rausfinden will«, erkläre ich. »Haben Sie je davon gehört, dass Washington unsichtbare Tinte benutzt hätte?«
Er wollte mir das Buch gerade zurückgeben, zögert jetzt jedoch. »Sie glauben, dass jemand hier welche benutzt haben könnte?«
»Sie sind der Mann mit den Chemikalien. Finden Sie es heraus. Dann schulde ich Ihnen etwas.«
»Alle Archivare schulden mir was. Ohne mich müsstet ihr euch auf Antiquarische Messen herumdrücken, um herauszufinden, ob auch nur die Hälfte von eurem Zeug echt ist.«
Er hat recht. Glücklicherweise gibt es etwas, das Diamond noch wichtiger ist als sein Ruf.
»Wie läuft es denn so mit Rina?«, erkundige ich mich grinsend.
Er erwidert das Lächeln nicht. Es gibt niemanden in diesem Gebäude, der nicht wüsste, dass er in meine Bürokollegin verknallt ist.
»Beecher, Sie haben nicht annähernd genug Mumm, um halten zu können, was Sie mir diesbezüglich in Aussicht stellen.«
»Das stimmt. Aber ich kann trotzdem ein gutes Wort für Sie einlegen.«
Mit seiner freien Hand rückt er den perfekt gebundenen Windsorknoten seiner Krawatte zurecht. Dann lächelt er. »Früher einmal waren Sie einer der wenigen Netten hier, Beecher. Jetzt sind Sie wie alle anderen.«
»Werfen Sie einfach nur einen Blick auf das Buch. Und suchen Sie nach unsichtbarer Tinte«, erwidere ich, ziehe die Panzerglastür auf und überlasse ihm das Wörterbuch. »Rinas Schreibtisch steht direkt neben meinem.« Ich senke die Stimme. »Was meinen Sie, Rina, hm? Ist dieser Daniel Boeckman nicht ein attraktiver Kerl?«
»Sagen Sie ihr, dass ich sensibel bin«, ruft Diamond mir nach, als ich schon wieder im Flur bin. »Gestern war sie völlig durcheinander, wissen Sie, wegen der Sache mit Orlando. Sensibel klingt da viel besser.«
Die kugelsichere Tür fällt mit einem Donnerschlag ins Schloss, aber etwas anderes hallt mir in den Ohren. Die Sache mit Orlando.
Ein Mann ist gestorben. Mein Freund. Ich sehe ihn noch da liegen; seine Haut so grau wie die Wand. Es ist erst gestern passiert, die Sache mit Orlando. Als würden wir über jemanden sprechen, der vergessen hat, die Kaffeemaschine aufzufüllen.
Der Gedanke setzt mir noch stärker zu, als ich über das weißgraue Schachbrettmuster des Fußbodens zum Fahrstuhl gehe, der direkt gegenüber von Orlandos Büro liegt. Als ich um die Ecke biege, sehe ich, wie sich die Tür seines Büros öffnet und …
Mein Magen verkrampft sich so fest, als würde jemand einen Knoten hineinschlingen.
Ausgerechnet sie.
36. Kapitel
Mein tiefstes Beileid. Es tut mir so unendlich leid, dass es so gekommen ist. Es tut mir so leid. Ich sage mir die Worte selbst vor, aber als die müde Afroamerikanerin mit der altmodischen Brille und dem verblichenen roten Mantel das Security-Büro verlässt und mir im Flur entgegenkommt, bringe ich keine einzige Silbe heraus.
Sie bemerkt mich nicht, sondern ist viel zu sehr mit der Person hinter sich beschäftigt, mit ihrem Sohn. Er hat ungefähr mein Alter und trägt einen großen Pappkarton in den Händen, den er fest an seine Brust drückt. Sein Kinn ziert ein tiefes Grübchen.
Genau wie bei seinem
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