Die Mädchenwiese
zur Hand.
Unterdessen kam eine Krankenpflegerin mit feuerroten Haaren um die Ecke. Sie blieb vor Laura stehen, die plötzlich Pudding in den Beinen hatte. »Ist was mit Lisa?«
Die junge Frau lächelte. »Nein, Ihrer Tochter geht es gut. Aber da ist ein Anruf für Sie. Wollen Sie mir bitte folgen?«
Ohne auf Lauras Antwort zu warten, ging sie wieder los. Während Frank einige Schritte entfernt mit angestrengter Miene telefonierte, hastete Laura der Schwester hinterher. »Ist es Sam?«
»Wenn Sam Ihr Bruder ist.«
»Nein, mein Sohn.«
»Ach so.« Die Pflegerin blieb stehen und wies mit der Hand in einen Raum, dem Anschein nach das Schwesternzimmer. Auf dem Tisch lag ein Telefonhörer. »Nein, Ihr Bruder möchte Sie sprechen.«
Ich habe keinen Bruder , schoss es Laura durch den Kopf. Mit Befremden führte sie den Hörer an ihr Ohr. »Hallo?«
Kapitel 57
Die ersten Monate klopften immer wieder Nachbarn an meine Tür. Einige Male stand Regina davor. Einmal meine Tante. Sie hatte die Bäckerei bereits vor ein paar Jahren schließen müssen. Mein Onkel war tot, so viel hatte ich mitbekommen. Nach einem halben Jahr hörten die Besuche auf. Die Leute ließen mich in Frieden, und ich machte einen Bogen um sie. Ich spürte ihre Blicke, wann immer ich ihnen im Dorf begegnete. War es nur Mitleid? Oder kannten sie die Wahrheit? Die ganze Wahrheit über Ferdinand? Und über meinen Sohn? Das, was er getan hatte? Hatte tun müssen! Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jeder Bescheid wusste.
Wenn ich das Haus verließ, dann tat ich dies in den späten Abendstunden, wenn die Dunkelheit sich über das Dorf legte und ich mir sicher war, dass niemand mir begegnete. Niemand, der mir Fragen stellte. Oder mir die Antworten gleich ansah. In der Hoffnung, dass irgendwann alles in Vergessenheit geraten würde. Vielleicht, dachte ich, würde auch ich all das Leid vergessen und dann meinen Sohn wieder in die Arme schließen können.
Anfangs sagte ich mir, er würde sich bei mir melden, wenn der rechte Zeitpunkt dafür gekommen war. Sobald er mich sehen wollte. Falls er mir vergeben hatte. Falls er mir vergeben konnte . Ich wollte ihn nicht bedrängen. Aber er kam nicht.
Ich glaube, er hat mir niemals vergeben.
Später erfuhr ich, dass er in einer Pflegefamilie lebte, irgendwo in Berlin. Er hatte einen neuen Namen angenommen, den Namen seiner Pflegefamilie natürlich. Ich sagte mir, dass das bestimmt gut für ihn war. Dass er dort besser aufgehoben war. Ich war ihm nie eine Mutter gewesen.
Fortan blieb ich alleine.
Der Tod der jungen Margrit ist heute nur noch ein kleiner, dunkler Fleck in der Geschichte unseres Ortes. Kaum jemand im Dorf erinnert sich an die Ereignisse vor zwanzig Jahren, oder es will sich niemand daran erinnern. Es ist, als hätte man das Wissen um meinen Mann einfach aus dem Gedächtnis aller ausradiert, so wie damals die Männer in ihren schwarzen Anzügen Ferdinand aus dem Haus geschafft hatten. Anschließend war er einfach weg. Manchmal glaube ich, ich bin die Einzige, die sich noch an ihn erinnert.
Mich wirst du niemals vergessen , hat mein Mann mir damals gesagt, irgendwann in den letzten Monaten unserer Ehe, wann genau, weiß ich nicht mehr. Mich wirst du niemals vergessen, dafür habe ich gesorgt.
Ja, das hat er, das dürfen Sie mir glauben.
Erst kürzlich hörte ich wieder seine Musik.
Ihr Herrn, urteilt jetzt selbst: Ist das ein Leben? , klang es von irgendwo aus dem Dorf. Ich finde nicht Geschmack an alledem.
Sofort kehrte die Erinnerung zurück und mit ihr die Scham und die Schuld und das Wissen, verstehen Sie, Herr … Entschuldigen Sie, über allem habe ich jetzt Ihre Namen vergessen. Sie sind … Herr Radkowski, ja. Und Sie? Ja, Herr Lindner, jetzt fällt es mir wieder ein. Ihnen gehört die Elster . Ich habe Sie einige Male vor der Kneipe gesehen, mit Ihrem Hund, wenn Sie abends eine letzte Runde drehen, so wie ich in der Dunkelheit.
Gestern, Herr Lindner, gestern habe ich Sie auch gesehen, gemeinsam mit Frau Theis. Habe ich Ihnen gesagt, dass ich auch die Tochter von Frau Theis kenne? Ich bin ihr begegnet, erst kürzlich im Dorf, wenige Stunden bevor sie verschwand. Es tut mir leid, was ihr widerfahren ist. Und ich bereue, dass ich es nicht verhindern konnte.
Wie bitte? Wieso es überhaupt geschehen musste? Können Sie sich das denn nicht denken?
Ich habe seine Musik gehört. Er ist zurück. Ich habe ihn sogar im Dorf gesehen. Es fängt von vorne an. Und diesmal ist es noch
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