Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
Vom Netzwerk:
seines Biologielehrers immer vorgestellt hatte. Ohne den Fisch aus dem Schnabel zu verlieren, breitete der Kormoran seine Flügel aus, schwang sich auf und schüttelte sich. Wasser spritzte in alle Himmelsrichtungen, tropfte auch auf Sam und sein Comic-Heft, aber das war Sam gleichgültig.
    Atemlos verfolgte er, wie der Vogel sich aus dem Wasser erhob, während Wellen ans Ufer schwappten. Er schwebte über den Kanal hinweg und ließ sich auf einem Ast nieder. Dort schlang er den Fisch herunter, während er seinen langen Hals zum Himmel reckte.
    Plötzlich scheuchte knackendes Unterholz ihn auf. Sam fuhr herum. Aber er konnte nichts erkennen im Dickicht, das die Lichtung umgab. Abgesehen von Vogelgezwitscher war nun auch nichts mehr zu hören. Er entspannte sich. Als er wieder zum Kormoran schaute, war dieser verschwunden.
    Enttäuscht sah Sam auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Schon wieder war die Zeit wie im Flug vergangen. Inzwischen dürfte seine Mutter wach geworden sein und gemerkt haben, dass er nicht mehr in seinem Zimmer war. Doch wäre er nicht im Wald gewesen, hätte er niemals den Kormoran gesehen.
    Er sah blinzelnd ins Wasser, auf dessen sanften Wellen sich die Sonne spiegelte. Er wollte sein Comic-Heft in den Rucksack packen, als es erneut im Gehölz knackte. Sam erhob sich mit einem mulmigen Gefühl. Er schulterte den Rucksack und pirschte sich an den Rand der Lichtung. Im Dickicht der Bäume konnte er nichts erkennen. Plötzlich hatte er es eilig, heimzulaufen. Schon wieder knackte es. Jetzt ganz nah. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Sam wollte losrennen. In diesem Moment erkannte er den Mann, der durch den Wald schlich.
    »Oh«, rief er überrascht. »Du?«
    »Lisa!«, rief Laura entsetzt, obwohl sie wusste, dass ihre Tochter sie nicht hörte, nicht bei dem Lärm, der in dem Krankenzimmer herrschte. Sie ergriff Lisas Hand und erschrak. Lisas Finger waren kalt. Eiskalt.
    Dr. Liss schob sie barsch vom Bett weg. »Gehen Sie zur Seite!«
    »Was ist mit ihr? Was, verdammt noch mal, ist mit ihr?«
    »Verlassen Sie bitte das Zimmer!«
    Doch Laura wollte nicht gehen. Sie wollte bei Lisa sein und ihr helfen. Zwei Krankenschwestern eilten mit wehenden Kitteln um die Ecke. Eine der beiden stellte den Alarm ab. In der plötzlichen Stille klang das monotone Pfeifen der Herzstromkurve umso schrecklicher. Die Beine gaben unter Laura nach.
    Frank nahm sie in den Arm und bugsierte sie sanft, aber bestimmt aus dem Zimmer. Doch Laura konnte ihre Tochter nicht im Stich lassen.
    »Nein!«, schrie sie.
    Franks Griff wurde stärker. »Laura, bitte, komm. Alles wird wieder gut.« Er packte sie grob an der Schulter und schleifte sie aus dem Zimmer.
    »Beatmung«, hörte Laura den Doktor sagen. Dann fiel die Tür zu.
    Laura hatte keine Ahnung, wie lange sie im Wartebereich auf und ab tigerte. Minuten? Stunden? Endlich kam Dr. Liss. Laura schaute auf die Uhr. Es waren nur fünf Minuten vergangen.
    »Für den Moment ist Lisa stabil«, sagte der Arzt. »Die kommende Nacht wird ausschlaggebend sein.«
    »Stabil?«, echote Laura.
    Dr. Liss nickte. »Sie lebt.«
    Alle Anspannung fiel von ihr ab, und sie sank in die Arme ihres Schwagers. Nachdem ihr Puls sich wieder normalisiert hatte, ließ sie sich glücklich auf einen der Schalensitze fallen. Sie schniefte und schnäuzte sich die Nase. Eine Pflegerin schaute nach ihr und bot ihr einen Tee an. Irgendetwas. Laura lehnte ab. Sie fühlte sich ruhig. So ruhig wie schon lange nicht mehr. Nur beiläufig bekam sie mit, wie Frank sein Handy einschaltete. Kurz darauf trafen mehrere Kurznachrichten ein. Er überflog sie und wählte dann eine Nummer.
    »Das war Renate«, sagte er schließlich, »sie hat Sam noch immer nicht gefunden.«
    Kapitel 55
    Während die Welt um uns herum zusammenbrach, ging mein Leben weiter wie bisher. In Berlin fiel die Mauer, die ganze Stadt befand sich im Ausnahmezustand. Alle sprachen von der Wende, niemand von dem jungen Mädchen, das von seinen Eltern vermisst wurde. Es zerriss mir das Herz, aber selbst ich wagte nicht, mich daran zu erinnern. Ich verdrängte, was geschehen war, für mich, für meinen Sohn und für alles, was –
    Aber das Mädchen wurde dann doch gefunden. Zwei Wochen später, es war der November des Jahres 1989, klopfte die Polizei an unsere Tür.
    Ferdinand bat die Beamten freundlich ins Haus. Er trug mir auf, ihnen Kaffee zuzubereiten. Die Männer erklärten, inmitten des chaotischen Trubels in Berlin habe die Nachricht

Weitere Kostenlose Bücher