Die Mädchenwiese
Straße fuhr ein Auto, dessen Keilriemen quietschte. Irgendwo im Haus bellte ein Hund.
»Weißt du«, sagte Schulze schließlich seufzend, »ich will die alte Geschichte nicht wieder hochkochen.«
»Die kommt so oder so hoch.«
»Diese Sache gestern war schlimm genug!«
Alex ballte die Fäuste. »Ja, ich weiß, bloß keine Unruhe im Dorf. Aber dir ist schon klar, dass es womöglich einen Zusammenhang zwischen beidem gibt, oder?«
Der Bauer presste seine Lippen aufeinander. Das war Antwort genug.
»Du weißt es also schon die ganze Zeit«, knurrte Alex, »und du hast nichts gesagt.«
Schulzes Mund war nur eine schmale Linie.
»Wenn es noch ein totes Mädchen gibt, nämlich Lisa Theis, dann trägst du die Schuld daran, das ist dir klar, oder?«
»Was willst du?«, fragte Schulze.
»Man hat das tote Mädchen damals hier im Dorf gefunden!«
»Ja«, brachte Schulze hervor. Dann fügte er schnell hinzu: »Aber ihr Mörder war keiner von uns. Nur ein Zugezogener.«
»Und das macht ihren Tod besser?«
Der Landwirt reagierte nicht.
»Wer war ihr Mörder?«, wollte Paul wissen.
Schulze winkte mit seiner Hand ab. »Was spielt das für eine Rolle? Man hat ihn abgeholt, wahrscheinlich weggesperrt.«
»Wahrscheinlich?«
Erneut ließ der Bauer sich Zeit mit seiner Antwort.
»Jetzt red schon!«, drängte Alex.
»Es gab einige Gerüchte. Aber keiner wusste was Genaues. Angeblich war er ein hohes Tier. Parteibonze. Stasi. So was in der Art.«
»Weswegen man über den Mord an dem Mädchen auch nichts weiter in den Medien gelesen hat, außer einer knappen Meldung«, mutmaßte Paul. »Er wurde unter den Teppich gekehrt. Tauchte niemals in irgendwelchen Akten auf.«
»Und nach der Wende geriet er in Vergessenheit.«
»Du meinst wohl eher, ihr wolltet es vergessen«, korrigierte Alex.
Schulzes Kiefer mahlten so heftig, dass sein Doppelkinn schwabbelte. »Nein, wir hatten andere Sorgen, du weißt das, es war nicht leicht für uns nach der Wende. Außerdem haben wir ihn nie wiedergesehen. Und seine Frau, sie hat …«
»Seine Frau?«, fragte Alex verblüfft.
»Ja, doch, er war verheiratet. Hatte sogar einen Sohn. Aber der kam ins Heim.«
»Ins Heim?« Alex liefen eisige Schauer über den Rücken. »In welches Heim?«
»Was weiß ich. Der Junge war einfach weg. Viel hatte man sowieso nicht von ihm gesehen. Es war, als wäre …«
»Wer war die Frau?«, unterbrach Alex ihn. »Wer?«
»Was glaubst du denn?« Schulze schnaufte schwer. »Die alte Kirchberger.«
Laura kam es vor, als würden ihre Gefühle Achterbahn fahren. »Du musst Sam suchen lassen!«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte ihr Schwager.
»Ganz einfach: Ihr sucht doch auch nach diesen zwei anderen Mädchen, dieser …« Sie überlegte, aber der Name wollte ihr nicht einfallen.
»Nina«, sagte ihr Schwager, »und Silke, ja, ich habe gerade die Suche nach ihnen veranlasst. Aber wenn wir vom Fundort der Leiche ausgehen und von dem Ort, an dem Lisa aufgefunden wurde, nämlich in Brudow, umfasst das Gebiet, das wir durchkämmen müssen, den halben Spreewald. Dieser Bunker, in dem das Mädchen gefangen gehalten wird, könnte überall und nirgendwo sein.«
»Es kann doch nicht so schwer sein, einen Bunker zu finden!«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Bunker hier existieren?« Frank schnaubte. »Hunderte alter Tunnel und Gewölbe aus sechzig Jahren DDR und Nationalsozialismus. Über viele von ihnen liegen nicht einmal mehr Karten vor. Genau aus diesem Grund habe ich keinen Mann mehr frei, der nach einem Jungen sucht, der sich zum Spielen in den Wald verdrückt.«
»Glaubst du, ihm ist nach allem zum Spielen zumute?« Laura musste an den vorigen Abend denken und daran, wie sie ihren Sohn bedrängt und angeschrien hatte. Sie würde diese Angst, diese Qual nicht noch einmal durchstehen können. Das Quietschen von Gummisandalen hallte durch den Krankenhausflur.
»Was ist mit … Alex … Lindner?«, flüsterte Laura. »Hat er nicht …?«
»Und der ist das nächste Problem.« Verärgert hieb Frank seine Faust in die flache Hand. »Er ist abgehauen.«
»Abgehauen? Warum?«
»Warum flieht jemand? Weil er ein schlechtes Gewissen hat. Weil er schuldig ist. Weil er seiner Strafe entgehen möchte. Hab’ ich was vergessen?« Frank zückte sein Handy. »Ich rufe Renate an. Sie soll weiter nach Sam Ausschau halten. Wenn sie ihn in, sagen wir, ein oder zwei Stunden nicht gefunden hat, dann … dann … Ach, ich weiß auch nicht.« Er nahm sein Handy
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