Die Mädchenwiese
Worte kamen ihm plötzlich lächerlich vor.
Seine Mutter hatte recht. Was ist denn das für ein Unsinn!
Sam machte kehrt, kurz darauf stieß er die Tür zum Zimmer seiner Schwester auf. Anders als bei ihm herrschte bei Lisa Chaos. Er konnte nicht nachvollziehen, wie sie in dieser Unordnung je etwas wiederfand. Aber zuletzt hatte er vieles von dem, was sie tat, nicht mehr begreifen können. Die Worte seines Onkels kamen ihm wieder in den Sinn: Sie hat im Augenblick keine Lust auf zu Hause. Sie ist einfach abgehauen, verstehst du?
»Ja, das verstehe ich«, murmelte er. Dennoch fühlte er sich von seiner Schwester im Stich gelassen. Einsam.
Tränen füllten seine Augen. Er sah sich nach einem Taschentuch um. Ein zotteliger Arm, der unter der Bettdecke hervorschaute, weckte seine Aufmerksamkeit. Sam bahnte sich einen Weg durch das Durcheinander der Schuhe und Kleider. Er raffte die Decke beiseite. Ein Teddybär kam zum Vorschein.
»Mr Zett«, entfuhr es Sam.
Das Stofftier war viele Jahre ein treuer Gefährte seiner Schwester gewesen. Sie hatte ihn mit in den Garten geschleppt, zum Grillen, sogar zum Reiten, als ihre Mutter sich das noch hatte leisten können. Zwar war der Teddybär mittlerweile nicht mehr ständig an ihrer Seite, aber wenn sie in der Schule eine Prüfung schrieb oder ihr eine andere wichtige Aufgabe bevorstand, befand sich der Glücksbringer in ihrer Tasche. Wenn Lisa also abgehauen wäre, hätte sie ihn sicherlich mitgenommen.
Sam krallte seine Finger um das Stofftier und eilte in die Diele, wo er prompt mit seinem Onkel zusammenprallte. Mr Zett entglitt seiner Hand.
»Onkel Frank!«, rief Sam aufgeregt.
Sein Onkel rümpfte die Nase. »Du warst ja immer noch nicht duschen.« Hinter ihm erklomm Renate die Treppe. Sie lächelte.
Sam sah sich nach dem Stofftier um.
»Was hältst du davon, wenn du die nächsten Tage bei uns verbringst?«, fragte sein Onkel.
Sam hielt abrupt inne. »Aber ich …«
»Du bist doch immer gerne bei uns, oder nicht?«
Im Flur tauchte Sams Mutter auf. »Sam, nur so lange, bis alles wieder in Ordnung ist, okay?«
Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Seine Tante ging vor ihm in die Hocke. »Was hältst du davon? Wir machen uns einen schönen Abend. Gucken einen Film. Essen was Feines. Möchtest du was Besonderes?«
»Wie wär’s mit Reibekuchen?«, schlug Sams Mutter vor.
»Nein!« Sam war selbst überrascht über die Wut in seiner Stimme. »Ich mag keine Reibekuchen. Ich mag nur Pfannkuchen!«
Seine Mutter sah ihn mit großen Augen an. Irgendwie empfand er in dieser Sekunde Genugtuung. Doch sie verflüchtigte sich noch im selben Moment, zurück blieb nur Enttäuschung.
»Kein Problem.« Seine Tante bugsierte ihn in sein Zimmer. »Dann packen wir jetzt deinen Rucksack, und anschließend gibt’s Pfannkuchen.« Sie fächerte sich mit der Hand frische Luft zu. »Aber vorher solltest du wirklich unter die Dusche.«
»Hast du Hobbys?«, hörte Lisa das Mädchen fragen.
Lisa schnaubte. »Ich weiß nicht, ob ich jetzt über …«
»Also ich tanze«, unterbrach Silke sie. »Einmal war ich sogar in der Tanzschule von Dee. Kennst du den? Der von Popstars . Aber eigentlich steh’ ich mehr auf klassisches Ballett. Da kriege ich jetzt Unterricht. Und du?«
Lisa zögerte. »Ich tanze auch gerne.«
»Aber nicht auf der Bühne, oder?«
»In der Disco.«
»Auch gut«, entgegnete Silke. »Hauptsache tanzen. Tanzen ist super. Hast du noch andere Hobbys?«
»Ich bin geritten. Und ich hatte ein Pflegepferd.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Wir haben kein Geld mehr dafür, seit mein Vater ausgezogen ist. Ich hab’ nicht mal ein iPhone. Und mein Bruder, der hat überhaupt kein Handy.«
»Du hast einen Bruder? Ist er älter als du?«
»Nein, Sam ist acht Jahre jünger.«
»Ich hätte gern eine große Schwester gehabt«, sagte Silke. »Stattdessen habe ich nur zwei große Brüder. Die sind ätzend.«
»Jüngere Brüder sind auch nicht viel besser.«
»Brüder sind ätzend!« Silke lachte.
»Und nervig.« Lisa stimmte in das Lachen ein. Überraschenderweise klang es vertraut, so als würden sie sich schon eine halbe Ewigkeit kennen, als wären sie gute Freundinnen, die jedes Geheimnis, aber auch jedes Schicksal miteinander teilten. Irgendwie ein tröstliches Gefühl.
»Ich hab’ mir letzte Woche ein Piercing stechen lassen«, sagte Lisa.
»Cool, wo?«
»Am Bauchnabel.«
»Ach so.« Wirklich beeindruckt klang Silke nicht.
»Meine Mutter war nicht begeistert«,
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