Die Mädchenwiese
keiner mit einem klaren Hinweis.«
»Woher wollt ihr das wissen?«
Frank lächelte beruhigend. »Wir haben unsere Methoden.«
»Welche?«
»Wir wissen zum Beispiel, welche Kleidung Lisa trägt. Oder mit wem sie sich vermutlich getroffen hat. Wer dazu nichts sagen kann oder uns ganz andere Geschichten auftischt, den können wir von vorneherein aussieben.«
Seine Worte klangen schlüssig. Dennoch war Laura nicht überzeugt. »Kann ich diese Hinweise …«
»Nein!«, unterbrach er sie. »Das ist meine Aufgabe. Die der Polizei. Es würde dich nur noch mehr aufregen.«
»Ich habe allen Grund, mich aufzuregen.«
»Trotzdem solltest du versuchen, dich nicht verrückt zu machen.«
Laura lachte. »Du hast gut reden. Lisa ist verschwunden. Mein Sohn ist abgehauen. Ich habe das Gefühl, mir entgleitet mein ganzes Leben. Und du sagst, ich soll mich nicht verrückt machen?«
»Das versteh’ ich, aber … Da, sieh mal!«
Sam schob sein Fahrrad zur Gartentür herein. Sofort stürmte Laura auf ihn zu.
Frank hielt sie zurück. »Lass mich mit ihm reden.«
Sam war erleichtert, als er seinen Onkel im Wohnzimmer sah. »Onkel Frank«, rief er, noch immer keuchend, weil er trotz seines schmerzenden Fußes und seines kaputten Fahrrads die letzten Meter nach Hause gerannt war. »Ich muss dir was sagen.«
»Allerdings, du warst nicht in der Schule.«
»Ja, ja.« Sam ließ seinen Rucksack auf den Boden plumpsen. »Ich … ich hab’ nach Lisa gesucht.«
Über das Gesicht seines Onkels glitt ein freundliches Lächeln. »Wir wissen zu schätzen, dass du bei der Suche nach deiner Schwester helfen willst, aber das solltest du uns überlassen. Du kannst nicht einfach die Schule schwänzen und …«
»Ja, aber in der Schule …«
»Sam!«, polterte seine Mutter. »Hast du nicht gehört, was dein Onkel gesagt hat?«
»Ja, aber …«
»Was, aber? Was glaubst du …«
»Laura«, unterbrach Frank sie.
»Scheiße, nein«, rief sie, »sieh ihn dir doch mal an. Und was ist das überhaupt für ein Gestank?« Angewidert wedelte sie mit der Hand vor ihrer Nase herum. »Er hat sich wieder im Wald herumgetrieben.«
Sam knetete seine Finger. »Ich war in Brudow.«
»In Brudow? Das wird ja immer schöner. Kannst du mir mal …«
»Laura!«, rief Sams Onkel.
»Frank!«, blaffte seine Mutter. Sie stieß einen langen Seufzer aus.
Sam wünschte sich, sie würde ihn ausreden lassen, ihm zuhören.
»Was wolltest du in Brudow?«, fragte sein Onkel.
Sam knibbelte an seinen Fingernägeln. »Ich habe Zack gesucht.«
»Wer ist Zack?«
»Das weiß ich nicht. Ich hab’ ihn nicht gefunden. Und dann …« Sam stockte. Dann hatten ihn zwei Jungs bedroht. Er war mit dem Fahrrad durch den Wald gefahren und gestürzt. Vor lauter Angst hatte er sich im Busch versteckt und war durch Fuchskacke gekrochen. Wollte er das seinem Onkel erzählen? Nein, das war ihm peinlich. Außerdem spielte es keine Rolle. Wichtig ist nur eines. »Dann hab’ ich die alte Kirchberger gesehen. Im Wald. Sie ist da rumgelaufen.«
»Frau Kirchberger war im Wald spazieren?«
»Und sie hat … gesungen.«
»Gesungen?«
»Nein, nein«, stotterte Sam, »gesprochen. Mit sich selbst … über ein junges Mädchen … ihre Schönheit … und ihre Schmerzen. Und Lisa hat doch … sie hat …« Er kämpfte mit den Tränen. Er wollte nicht weinen. Er wollte nicht, dass sie wieder mit ihm schimpften.
»Was hat Lisa?«, hakte sein Onkel nach.
»Sie hat gesagt, wenn ich Mama was verrate, dann passiert was Schlimmes.«
»Sam«, Franks Mundwinkel zuckten, »versuchst du mir gerade zu erklären, dass Frau Kirchberger was mit Lisas Verschwinden zu tun hat?«
»Was ist denn das für ein Unsinn!«, entfuhr es Sams Mutter.
Sam schoss das Blut in die Wangen.
»Mir scheint, da ist deine Sorge wohl mit dir durchgegangen.« Sein Onkel schmunzelte. »Was mich nicht wundert, wenn deine Schwester dir mir solchen Drohungen Angst einjagt.«
»Aber …«
»Aber das sollte dir Beweis genug sein«, fuhr Onkel Frank fort, »wie sehr Lisa wollte, dass du nicht verrätst, was sie vorhat oder wo sie hinfährt. Sie hat im Augenblick keine Lust auf zu Hause. Sie ist einfach abgehauen, verstehst du?«
Sam nickte.
»Was natürlich nicht bedeutet, dass es in Ordnung ist, wenn sie ohne ein Wort verschwindet, denn dann machen wir uns Sorgen. Aber genauso wenig ist es okay, wenn du nicht zur Schule gehst und deiner Mutter nicht erzählst, dass du alleine durch die Wälder radelst, sogar
Weitere Kostenlose Bücher