Die Mädchenwiese
bis nach Brudow. Dann muss sie sich nämlich auch Sorgen um dich machen, und das möchtest du doch nicht, oder?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Und jetzt verschwinde unter die Dusche.« Frank lächelte. »Dein heutiges Deo war wirklich nicht die beste Wahl.«
Lisa ignorierte den Druck in ihrem Unterleib. Denk an was Schönes! , befahl sie sich in Gedanken. Aber mit der scheußlichen Kammer vor Augen wollte ihr nichts einfallen.
»Man sucht nach dir!«, sprach sie sich Trost zu.
Aber man wird dich nicht finden! Weil niemand weiß, wo er nach dir suchen soll , wisperte eine Stimme in ihr. Lisa zuckte unter einem weiteren Krampf zusammen. Weil keiner weiß, wo du das Wochenende verbracht hast. Allen hatte sie Lügen aufgetischt. Allen außer Sam. Doch selbst er wusste, obwohl er ihr Telefonat belauscht hatte, viel zu wenig über Lisa und Berthold … Der Gedanke an ihren Freund ließ ihr Herz höherschlagen. Lisa fasste neuen Mut. Bestimmt hatte Berthold eine Nachricht von ihr vermisst und längst die Suche aufgenommen. Wahrscheinlich war er sogar zu Lisas Mutter gegangen. Das bedeutete zwar, dass diese von Lisas Lügen, dem Wochenende in Berlin und der Beziehung zu Berthold erfahren hatte, aber das war in ihrer momentanen Lage Lisas geringstes Problem.
Berthold und Lisas Mutter würden gemeinsam nach ihr suchen, zur Polizei gehen, Lisas Onkel einschalten. Und am Ende würde ihre Mutter froh sein, wenn Lisa wohlbehalten heimkehrte. Was schon am Sonntag Lisas Plan gewesen war, nachdem sie sich nur widerwillig von Berthold verabschiedet hatte und zur Bushaltestelle gelaufen war. Dann hatte sie das Auto neben sich halten hören und –
Sie konnte sich nicht erinnern, was danach passiert war. Lisa krümmte sich unter einem neuerlichen Krampf. Ihr Blick fand den Topf. Der Druck war kaum noch auszuhalten.
Laura sah ihrem Sohn hinterher, der mit hängenden Schultern die Stufen zum Bad erklomm. Unvermittelt schämte sie sich. »Ich dachte immer, ich kenne meine Kinder. Aber jetzt kommt es mir so vor, als wären sie Fremde.«
»Das ist normal in deiner Situation«, stellte ihr Schwager fest.
»Ist es das?« Sie ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. »Ich für meinen Teil begreife die Welt nicht mehr, sobald ich Sam reden höre – wenn er denn mal den Mund aufmacht. Dann frage ich mich jedes Mal: Was geht bloß in dem Jungen vor?«
»Er macht sich Sorgen, genauso wie du.«
»Ja, mag sein, aber … die Kirchberger? Diese alte …«
»Hexe? Sprich es ruhig aus.« Frank lachte. »So wird sie doch von allen im Dorf genannt, schon seit Jahren. Ich kenn’ es gar nicht anders.«
»Aber wie kommt Sam auf sie? Auf einen solchen Unsinn?«
»Er hat nun mal eine blühende Phantasie, das weißt du. Was an sich auch nicht verkehrt ist. Du solltest dankbar sein für einen aufgeweckten Jungen wie ihn.«
»Aufgeweckt? Und warum merke ich nichts davon? Wieso druckst er ständig nur herum, wenn ich mit ihm rede? Und heult immer gleich? Mit dir kann er doch auch normal reden.«
»Weil du gestresst und gereizt bist. Und weil du viel um die Ohren hast.«
Laura entdeckte die Zigarettenschachtel unter der Fernsehzeitschrift. »Ich weiß.«
»Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.«
»Oder der direkte Weg in die Hölle«, murmelte sie.
»Wie meinst du das?«
Laura zündete eine Zigarette an. »Ich habe Lisas Zimmer seit gestern Mittag drei- oder viermal durchsucht – und immer wieder finde ich Dinge, von denen ich nichts wusste.«
Ihr Schwager zog die Augenbrauen hoch.
»Nein«, fügte sie rasch hinzu, »nichts, was einen Hinweis auf ihren Verbleib geben würde. Stattdessen alle möglichen Dinge, die mir zeigen, wie … wie …« Sie nahm einen tiefen Zug. »Vorhin habe ich eine Matheklausur gefunden, für die Lisa eine gute Note erhalten hat. Ich hatte davon keine Ahnung.«
»Wie gesagt, du hattest viel um die Ohren.«
»Ja, aber … Ich weiß nicht, welche Partys Lisa besucht hat. Was für Kleider sie dabei getragen hat. Welche Noten sie bekommen hat. Wer ihr Freund ist.« Sie stieß den Rauch in die Luft. »Ich kenn’ ja nicht einmal ihre Lieblingsgruppe. Oder ihre Lieblingssängerin. Was weiß ich überhaupt über sie? Und wenn sie mir mal was erzählt hat, etwas, das ihr wichtig war, hab’ ich nur mit ihr geschimpft. Vor kurzem hat sie mir erzählt, sie würde gern mal einen Bungeesprung machen. Du tickst doch nicht richtig! , hab’ ich ihr geantwortet. Und weshalb hab’ ich sie wegen
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