Die Mädchenwiese
fügte Lisa hinzu.
»Aber das ist doch nur ein kleiner Stecker am Bauchnabel. Den sieht doch keiner.«
»Hab’ ich auch zu ihr gesagt.« Lisa seufzte. »Nur gut, dass ich ihr nicht verraten habe, dass ich mich irgendwann auch noch tätowieren lassen möchte.«
»Klar, das fänd’ sie bestimmt auch nicht toll.«
»Sie würde es mir niemals erlauben.«
»Ist sie sehr streng, deine Mutter?«
»Na ja, sie ist …«
Silke kicherte. »Wenn ich meiner Mutter von einem Tattoo erzählen würde, dann würde sie bestimmt sagen: ›Liebes, vorher bin ich dran.‹«
Lisa lächelte. Das vertraute Plaudern mit Silke nahm ihr die Angst. Das Gefängnis verlor etwas von seinem Schrecken. Schließlich gab es noch eine Welt außerhalb dieser Kammer. Dort sucht man nach dir, Berthold, deine Mutter, dein Onkel, ganz bestimmt tun sie das. Und sie werden dich finden! , flüsterte eine Stimme in Lisa.
»Weißt du, was ich auch noch gerne machen würde?«, fragte Lisa.
»Erzähl!«
»Einen Bungeesprung. Ich hab’ gehört, in Berlin kann man das vom Dach eines Hotels aus tun.«
»Und das würdest du dich wirklich trauen?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Lisa und konnte den Stolz in ihrer Stimme nicht verbergen. »Allein die Vorstellung, mich fallen zu lassen, einfach frei zu sein – und doch zu wissen, dass ich aufgefangen werde. Das muss cool sein.«
»Ja, Christina hat so was Ähnliches auch gesagt.«
»Hat sie auch Bungee gemacht?«
»Nee, sie wollte Fallschirm springen.«
»Ist sie eine Freundin von dir?«
Silke antwortete nicht. Das finstere Gewölbe füllte sich mit beklemmender Stille. Schlagartig fiel jedes gute Gefühl von Lisa ab. »Wer ist Christina?«
Kapitel 23
Plötzlich klang die Musik im Café Moskau nicht mehr fröhlich. Auf dem Tanzparkett drehten Paare zwar weiter ihre Runden, die schicken Frauen und Männer an den Tischen lachten noch immer, Kellner balancierten weiterhin klirrendes Geschirr an die Tische. Aber das ausgelassene Miteinander berührte mich nicht mehr, es war mir fremd geworden. Dabei war es mir schon immer fremd gewesen. Es war kein Teil meines Lebens, meines leidvollen Lebens. Es war so viel Zeit vergangen, seit ich mit jemandem hatte reden können. Unendlich viel Zeit. Jetzt begann ich zu erzählen.
Sie wollen wissen, was genau ich Ferdinand berichtet habe? Ob ich ihm von meinem Onkel erzählte? Nein, natürlich verlor ich kein Wort über meinen Onkel. Selbst wenn dessen Warnung nicht gewesen wäre, ich hätte die beschämende Wahrheit niemals aussprechen können. Nie wieder hätte ich Ferdinand danach ins Gesicht schauen können.
»Es ist meine Mutter«, sagte ich.
Ferdinand zog an seiner Karo .
»Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Meine Mutter hatte lange mit der Trauer zu kämpfen. Fast hätten wir alles verloren. Unsere Bäckerei. Das Haus.«
Ferdinand stieß seinen Zigarettenrauch in die Luft. Er nickte.
»Sie hat den Kampf gewonnen«, fuhr ich fort, »nur um einige Monate später gegen die Krankheit zu verlieren. Sie leidet an Muskelschwund. Sie braucht rund um die Uhr Hilfe. Es ist so anstrengend. Manchmal glaube ich, ich schaffe das nicht.«
Ferdinand sah mich aufmerksam an.
Ich empfand wieder Scham, Verzweiflung und auch Angst. Es war absurd, aber ich verspürte das Bedürfnis, etwas richtigzustellen. Dabei hatte ich nicht einmal etwas Falsches gesagt.
»Aber mein Onkel ist ja da«, fügte ich hinzu, »mein Onkel, der uns hilft.«
Ferdinand drückte seine Kippe aus. »Gut, genug der Probleme. Jetzt gehen wir tanzen.«
Verstört folgte ich ihm auf das Parkett. Erneut roch ich den Duft seines Deodorants. Er nahm Haltung vor mir an. Besitzt er denn überhaupt kein Mitgefühl? , fragte ich mich. Er legte meine Finger in seine linke Hand, umgriff meine Hüfte mit der anderen, sein Kopf nickte kurz im Takt der Musik, dann schwebten wir über die Tanzfläche.
»Du tanzt gut«, stellte er nach einer Weile fest.
Mehr als ein verwirrtes Kopfnicken brachte ich nicht zustande.
»Doch«, sagte er, »das tust du.«
Irgendwann spürte ich, wie meine Skepsis langsam schwand. Ich begann Gefallen an unserem Tanz zu finden und gab mich der fröhlichen Musik hin. Da begriff ich plötzlich, was mein Begleiter bezweckte. Er hatte recht. Genug der Probleme ! Ferdinand hatte mich ins Theater ausgeführt, anschließend ins Café. Ich hatte mich amüsiert. Es wird Ihnen guttun , hatte er mir versprochen, und er hatte Wort gehalten. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, ihn
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