Die Mädchenwiese
keuchte. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihre linke Brust. Sie schrie, bis nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle drang.
Denn wovon lebt der Mensch? , sang die Frauenstimme. Dazu klimperte das Piano. Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
Lisa nahm ein Schnaufen wahr. Es war ganz nah. Nein, bitte nicht, bitte, bitte, nicht noch mal.
Zähne gruben sich in ihre rechte Brust. Ihr Körper war kurz davor zu kollabieren. Ihr Mageninhalt drängte sich ihren Hals hinauf. Ich möchte sterben, bitte, lieber Gott, bitte, lass mich sterben. Erbrochenes quoll aus ihrem Mund, über ihr Kinn, platschte auf den Boden.
Nur dadurch , sang die Frau, lebt der Mensch …
Lisa spürte heißen Atem zwischen ihren Beinen. Sie versteifte sich. Lippen berührten ihre Scheide. Dann Zähne. Lisa schrie. Er biss zu.
… dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.
Endlich wurde ihr schwarz vor Augen, und Dunkelheit umfing sie.
Kapitel 29
Es gibt Ereignisse in Ihrem Leben, die können Sie kommen sehen. Wenn ich mir heute die Geschehnisse jenes Herbstabends in Erinnerung rufe, dann denke ich, hätte ich sie wohl erahnen müssen. Damals, nicht einmal vier Monate nach meinem ersten Rendezvous mit Ferdinand, weigerte sich mein Verstand zu begreifen. Sprachlos stand ich am Straßenrand, mitten in Berlin, das Licht des Friedrichstadtpalastes noch im Rücken. Der Wind blies Laub zwischen meine Beine. Mir war, als wirbelte er auch die Gedanken in meinem Kopf umher.
Möchtest du meine Frau werden? Hatte Ferdinand mich das tatsächlich gefragt?
»Nein«, sagte ich. Und gleich darauf noch einmal, jetzt viel lauter: »Nein, das geht nicht.«
Die Häuserfassaden warfen ein Echo meines entsetzten Ausrufs zurück auf die Friedrichstraße. Passanten blieben vor uns stehen. Als wären wir Gaukler, sahen sie amüsiert dabei zu, wie Ferdinand seine Hand mit der Schachtel und dem Ring noch höher hielt. Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken und nie wieder aufgetaucht.
»Nein«, wiederholte ich stattdessen, »das geht nicht. Das ist …«
»Moment!« Ferdinand sprang auf. »Fragen wir doch einfach deine Mutter.«
Er schnappte meine Hand und schob mich ins Auto. Ob Sie es glauben oder nicht, die Leute um uns herum spendeten Beifall.
Der Applaus klang mir noch in den Ohren, als wir keine sechzig Minuten später vor dem Krankenbett meiner Mutter standen. Ferdinand verbarg seine Betroffenheit über ihren elendigen Zustand. Er hielt um meine Hand an.
Noch während er sprach, begannen Mutters Augen zu leuchten. Ihr ganzes Gesicht glühte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal so glücklich erlebt hatte. Ich glaube, damals war mein Vater noch am Leben gewesen. Wie viele Jahre waren seitdem ins Land gezogen? Ach was, es spielte keine Rolle. Jetzt, in dieser Sekunde, lachte sie, während gleichzeitig Tränen ihre Wangen hinabliefen. Für einen Moment hatte es den Anschein, als wäre sie niemals krank gewesen.
Ferdinand drehte sich zu mir um. »Also, Berta, willst du?«
Ich blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Im Blick meiner Mutter lag kein Vorwurf. Kein Zorn. Auch keine Angst. Ich erkannte nichts als Freude – und Stolz.
Ich wünsche mir, dass du irgendwann einen netten Mann heiratest, der dich glücklich macht , hatte mein Vater gesagt, als ich noch ein kleines Mädchen war.
»Ja«, brachte ich hervor.
Noch am selben Abend − Ferdinand hatte sich erst vor wenigen Minuten auf den Heimweg begeben, und ich war dabei, mir meinen Pyjama für die Nacht überzustreifen − platzte mein Onkel in mein Zimmer.
»Glaubst du denn, dieser Ferdinand meint es wirklich ernst mit dir?«, blaffte er. Dabei wurde seine Haut fleckig vor Zorn.
Kein Laut kam aus meinem Mund.
»Ausgerechnet mit dir?«
Ich nickte. Wenn ich mir in dieser Minute einer Sache sicher war, dann dieser.
Mein Onkel stieß die Luft aus. »Was meinst du, wird er von dir halten, wenn ich ihm sage, was du getan hast? Wie du mich verführt hast!« Er grinste gehässig. »Deinen eigenen Onkel!«
Mir wurde schwindelig. Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Ich sank auf mein Bett. Als mein Blick sich wieder klärte, war mein Onkel verschwunden. Ohne ein weiteres Wort. Ohne mich anzufassen. Aber das spielte keine Rolle. Auch ohne seine Berührungen war mir übel. Ich rannte ins Bad und übergab mich. Die nächsten Tage musste ich mich ständig erbrechen. Nachts wälzte ich
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