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Die Maenner vom Meer - Roman

Titel: Die Maenner vom Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Konrad Hansen
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Björn einen Platz gefunden, von dem aus er die Schiffe beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Manchmal hallten die Ufer von Geschrei wider, und Björn sah, wie Männer mit Peitschen auf Menschen einschlugen, die aneinander-gekettet auf dem Schiffsboden hockten. Einmal warfen die Männer einen leblosen Körper über Bord, der mit dem Rücken nach oben ans Ufer trieb. Als das Schiff hinter der Halbinsel verschwunden war, stieg Björn zum Strand hinunter und drehte die Leiche um. Es war ein Mädchen mit langen braunen Haaren, vielleicht zehn oderzwölf Jahre alt; ihre Lippen gaben zwei lückenlose Zahnreihen frei, so daß es aussah, als ob sie ihn anlächelte.
    Nicht weit von Björns Versteck entfernt, auf der Spitze der Halbinsel, lag ein mit Palisaden bewehrter Wall, der einige aus rohen Stämmen zusammengefügte und mit Schilf gedeckte Hütten umschloß. Die Burg war ständig mit einer Handvoll bewaffneter Männer besetzt. Wenn Schiffe vom Meer her kamen, stellten sich die Männer an die Sehschlitze, die in den Palisaden eingelassen waren. Meistens kletterten sie, nachdem sie die Schiffe eine Weile beobachtet hatten, auf die Brüstung und schlugen ihre Schilde gegeneinander; zuweilen kam es aber auch vor, daß sie einen Holzstoß in Brand setzten und das Feuer mit feuchtem Laub oder Stroh abdeckten, woraufhin dicke Rauchschwaden emporquollen. Wenig später kam Antwort aus der Richtung, in der die Stadt lag: Auch dort stieg eine Rauchwolke aus dem Wald auf.
    An einem der letzten sonnigen Herbsttage, bevor sich der Winter mit Nebel und Regen ankündigte, vernahm Björn Hugins Stimme. Der Rabe saß, zum Greifen nah, auf einem Baumstumpf und blickte ihn mit seitwärts geneigtem Kopf an. Als Björn sich ihm näherte, öffnete er seinen gewaltigen Schnabel, ließ ein Krächzen hören und strich ab, um sich ein Stück entfernt auf einem anderen Baumstumpf niederzulassen. Dies wiederholte sich einige Male, und Björn folgte ihm immer tiefer in den Wald hinein. Durch kniehohes Laub und Dornengestrüpp, über umgestürzte Baumstämme hinweg führte der Rabe ihn zu der riesigen Wurzel einer Esche, deren Stamm in Augenhöhe abgesplittert war und nun, von Ameisen bewohnt, auf dem Waldboden vermoderte.
    Unter der Wurzel hauste Gris der Weise. Der Boden und die Wände seiner Höhle waren mit faulendem Laub bedeckt, vom Wurzelgeflecht der Decke hingen Spinnweben herab, in der Mitte brannte ein kleines Feuer, an dem der Greis sich die Hände wärmte. Der Rabe setzte sich auf seine Schulter.
    »Ist gut, Hugin, ist gut«, murmelte der Weise. Obwohl er seinAuge nicht sah, spürte Björn, daß der Alte ihn anblickte. Eine Weile war nur das Knistern des Feuers zu hören und der Wind, der durch die Baumwipfel strich. Dann sagte Gris: »Du bist keiner von denen, die ihre Worte vergeuden, das gefällt mir. Es ist auch nicht nötig, mir etwas zu erzählen, denn von Hugin weiß ich genug über dich.« Wieder schwieg der Alte lange, bevor er fortfuhr: »Ich bin von Moder umgeben, in mir selbst breitet sich Fäulnis aus, gestern fielen mir zwei Zehen ab, mein Speichel schmeckt nach Eiter, Gestank kommt mir aus den Poren, alles deutet darauf hin, daß ich bald sterben werde. Aber bevor ich sterbe, will ich erzählen, was ich weiß. Und dich habe ich dazu ausersehen, es zu hören, Sohn des Bosi.« Die Hände immer noch über dem Feuer ausgestreckt, begann er, seinen Oberkörper hin und her zu wiegen und eintönig zu singen:
     
    Gehör heisch ich
    heilger Sippen,
    hoher und niedrer
    Heimdallssöhne:
    Du willst, Walvater,
    daß wohl ich künde,
    was alter Mären
    der Menschen ich weiß.
     
    Er sang viele Strophen, erzählte von Ginnungagab, der gähnenden Leere, aus der zuerst das Reich der Riesen entstand, erzählte von Bors Söhnen Odin, Wili und We, die den alten Riesen Ymir erschlugen und aus seinem Fleisch die Erde schufen, aus seinen Knochen die Gebirge, aus seinen Haaren die Bäume und aus seiner Schädeldecke den sich über alles wölbenden Himmel. Zwischen den Strophen schwieg der Greis, damit Björn seine Worte nachsprechen und sie sich einprägen konnte.
    Das Erzählen schien dem Alten keine Mühe zu bereiten, von seiner Gebrechlichkeit war um so weniger zu spüren, je mehr erdie Sache der Götter zu seiner eigenen machte, zuweilen sprang er sogar auf und schlug mit geballten Fäusten auf unsichtbare Riesen ein. Hin und wieder drangen auch Töne durch den filzigen Schleier vor seinem Gesicht, die einem Lachen ähnelten; es

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