Die Maenner vom Meer - Roman
waren vor allem Lokis Streiche, die ihn zu erheitern schienen, und als er davon sprach, wie Loki sich in eine rossige Stute verwandelte, um den Hengst Swadilfari von der Arbeit fortzulocken, und Monate später das achtbeinige Fohlen Sleipnir zur Welt brachte, da warf es den Greis rücklings auf das Laub, und sein dürrer Körper bebte vor Lachen.
Aber wenn der Alte einmal guter Laune war, pflegte er gleich darauf um so tiefer in Trübsinn zu versinken. Dann wurde er nicht müde, die Schrecken der Ragnarök auszumalen, der die Götter zum Opfer fielen, er raufte sich wehklagend das Haar, er brüllte, wie sie gebrüllt haben mochten, als sie die tödlichen Wunden empfingen, und er schilderte den Todeskampf eines jeden Gottes so anschaulich, daß Björn mehr als einmal versucht war, entsetzt das Weite zu suchen. Erst allmählich, im Laufe vieler Stunden, die er gebannt lauschend in der Höhle des Weisen verbrachte, lernte er, zwischen der Beschreibung eines Ereignisses und diesem selbst zu unterscheiden.
Wie lange Gris schon unter dem Baumstumpf wohnte, wußte er nicht zu sagen; er erinnerte sich nur, daß Wurzel und Stamm noch eins waren, als er die Höhle entdeckte. Schon damals, sagte Gris, habe er seine besten Jahre hinter sich gehabt, und Odin allein wisse, weshalb der letzte Lebensfunke in seinem von Krankheit und Alter zermürbten Körper nicht schon längst erloschen sei.
Über seine Herkunft sprach er nur in wenigen, zudem noch widersprüchlichen Andeutungen. Einmal behauptete er, der Sohn eines Goden zu sein; dann wieder erzählte er von seiner Kindheit auf einer von Eis und Schnee bedeckten Insel im Nordmeer, wo in Notzeiten eine Ratte als Leckerbissen gegolten habe. Um so ausführlicher erging er sich in Schilderungen seines weiteren Lebens. Er rühmte sich, einem König zum Kriegsglück verholfen und einemmächtigen Jarl als Ratgeber gedient zu haben. Eines Tages sei sogar ein Abgesandter des Kaisers von Miklagard zum Hof des Jarls gekommen und habe Gris angeboten, in den Dienst seines Herrn zu treten. Darauf habe der Jarl gesagt: Wenn es dem Kaiser um den Kopf seines Ratgebers zu tun sei, könne er ihn bekommen, nicht aber dessen Rumpf. Manche seiner Geschichten erzählte Gris immer wieder und jedesmal anders, so daß es Björn schwerfiel, hinter den ständig wechselnden Ausschmückungen ihren wahren Kern zu erkennen.
Weshalb er sich vor vielen Jahren entschlossen hatte, das kärgliche Leben eines Einsiedlers zu führen, darüber ließ Gris nie ein Wort verlauten. Nur soviel erfuhr Björn: Der Alte liebte die Menschen nicht. Statt seinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten, daß er Krankheiten bei Mensch und Vieh heilte, Trolle und Wiedergänger bannte oder in die Zukunft sah, zog er es vor, alle Entbehrungen auf sich zu nehmen, die ein Leben in menschenferner Einsamkeit mit sich bringt. Er ernährte sich von Beeren, Pilzen, Kräutern und dem Honig wilder Bienen, er sammelte Möweneier am Ufer der Förde und fing mit den bloßen Händen Kaninchen, wenn sie aus dem Bau schlüpften. Nur im Winter erschien er manchmal, zum Skelett abgemagert, im Dorf und ließ sich von den Bauern bewirten. Keiner wagte es, ihm die Tür zu weisen, denn das, glaubten sie, brächte Unheil für Haus und Hof.
Einmal kam ein Mann in Gris' Höhle. Er trug weite Pluderhosen, einen Mantel aus schimmerndem Stoff und silberne Armringe. Der Mann rümpfte die Nase, als ihm der Fäulnisgeruch entgegenschlug, aber er setzte sich neben Gris ans Feuer. Sie redeten lange darüber, wie hart der Winter gewesen und wie spät der Frühling gekommen war, sie unterhielten sich über den Wind, der seit Tagen mit unverminderter Stärke aus Westen wehte, und schließlich kam der Mann darauf zu sprechen, daß er eine weite Schiffsreise plane, für die er des Beistands der Götter, vor allem Njörds, bedürfe. Der Weise senkte den Kopf und dachte lange nach. Dann ritzte er Runen in ein Stück Holz und gab es dem Mann. Dieser legte einenkleinen Beutel in Gris' Schoß. Der Alte nahm den Beutel, wog ihn in der Hand und sprach:
Wertere Last
trägt auf dem Weg man nie
als starken Verstand:
Er frommt dir mehr
in der Fremde als Gold;
er ist der Hilflosen Hort.
Nach diesen Worten schnürte er den Beutel auf und verstreute seinen glitzernden Inhalt ringsumher im Laub.
Der Mann schien verärgert und sagte: »Dafür bekommst du mehr, als du in drei langen Wintern essen und trinken kannst.«
»Es mag sein, daß ich heute noch sterben werde,
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