Die Maetresse des Kaisers
Da Bianca die einzige gräfliche Dame im Haushalt ihres Bruders war, bewohnte sie das oberste Stockwerk des Anbaus allein. Manfreds Privaträume lagen unter den ihren, alle anderen Ritter schliefen in den Kammern, die direkt an die Befestigungsanlagen angrenzten.
Um die Burg unbemerkt verlassen zu können, müssten die Frauen nicht nur einen gefahrlosen Weg aus dem Wohnturm der gräflichen Familie finden, sondern sich über den Burghof an den Pferdeställen und den Hunden vorbeischleichen, um dann durch eines der Tore zu schlüpfen.
Unmöglich, dachte Bianca verzweifelt, das können wir nicht schaffen.
Und Enzio? Wie sollen zwei Frauen einen großen, schweren Mann durch die Gänge schleifen, ohne dass einer der anderen erwachen würde?
»Giovanna«, flüsterte Bianca, »es geht nicht. Ich sehe keinen Weg zur Flucht.«
»Es gibt immer einen Weg. Wir müssen ihn nur finden. Und das schnell, denn wenn der Morgen graut, haben wir keine Chance mehr.«
Bianca nahm die Kerze und erhob sich mühsam von dem Steinboden. Sie spürte jeden Muskel, ihre Arme schmerzten, ihre Wange fühlte sich wund an.
In der Burg herrschte Totenstille, und auch draußen schien die Natur den Atem anzuhalten. Noch sang kein Vogel, bellte kein Hund.
Mit der brennenden Kerze schritt sie durch ihr Zimmer zu der schmalen Holztür, durch die man in einen Gang gelangte, den nur wenige Menschen betreten durften. Der Gang führte direkt zu dem privaten Abtritt der Grafenfamilie an der Außenseite der Burgmauern. Von hier aus mündete der Latrinenabfluss in einen tiefen und übel riechenden Teil des Burggrabens.
Der Abtritt hatte ein etwas größeres Fenster als andere Kammern der oberen Burgstockwerke, damit der Gestank durch ständige frische Luft vertrieben wurde.
Bianca öffnete vorsichtig die Tür und schlich, ohne ein Geräusch zu machen, in den Gang, dann hinüber zu der Kammer, in der die gräfliche Familie ihre Notdurft verrichtete.
»Es wäre möglich«, flüsterte sie. »Es wird nicht leicht sein, aber wir müssen es versuchen.«
Ebenso lautlos, wie sie gekommen war, huschte sie zurück in ihre Kammer, wo Giovanna nervös auf sie wartete.
»Schnell, lass uns Enzio in meinen alten Wandteppich wickeln. Wir ziehen ihn vorsichtig über den Gang.«
»Und dann?«, fragte Giovanna mit zitternder Stimme. »Was machen wir dann mit ihm?«
»Dann werfen wir ihn in den Burggraben.«
Giovanna sah ihre Ziehtochter mit stummem Entsetzen an. Einen Toten den Latrinenabfluss hinunterrutschen lassen? Niemals würde ihr der Himmel vergeben.
»Giovanna, wir haben keine andere Wahl. Willst du ihn hier liegenlassen? Komm, hilf mir.«
Die beiden Frauen zerrten den Wandteppich aus dem Schrank, der früher Biancas Zimmer schmückte und erst vor zwei Jahren von einem herrlichen Gobelin – einem Geschenk ihrer Tante mütterlicherseits – ersetzt worden war.
Bianca betrachtete ihn einen Moment lang mit Wehmut, dann begann sie Enzios toten Körper in den Teppich zu wickeln. Das Blut aus seiner Wunde hatte inzwischen ihr Bett völlig besudelt. Sie nahm Laken und Decke und band beide um Enzios Beine.
Gemeinsam rollten sie die Leiche des Grafen von Tuszien in den bestickten Teppich und begannen ihre Last langsam über den Steinboden zu zerren.
Stück für Stück kamen sie der Holztür näher. Bianca hielt ihr Ohr an die Tür und konzentrierte sich auf jedes noch so kleine Geräusch.
Nichts. Sie winkte Giovanna, die in ihrer linken Hand die Kerze hielt, zu sich und schob vorsichtig die Tür auf. Unsicher sah sie sich nach Giovanna um. Irgendetwas hatte sich verändert. Irgendetwas stimmte nicht. Auch die Amme schien das zu spüren, und die beiden Frauen blieben nervös stehen.
»Es hat aufgehört zu regnen«, flüsterte Giovanna.
Tatsächlich war das beruhigende Wispern des Wassers einer absoluten, beängstigenden Stille gewichen.
»Schnell«, drängte Bianca. »Wenn sich die Wolken verziehen, wird es bald hell sein. Mit dem ersten Licht sind auch die Knechte auf den Beinen.«
Mit aller Kraft zogen sie Enzios massigen Körper über den Gang in den Abtritt und stießen und schoben ihn gemeinsam durch die Fensteröffnung in den Latrinenabfluss.
Sie hörten, wie sein Leichnam die Burgmauern entlangrutschte, schneller und schneller wurde und schließlich in dem fauligen Wasser des Burggrabens aufschlug.
Mit bleichen Gesichtern eilten die Frauen zurück in Biancas Kammer.
Bianca sah an ihrem zerrissenen Nachthemd hinab und zog ein einfaches Kleid aus
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