Die Mafia - 100 Fragen 100 Antworten - FAQ Frequently Asked Questions MAFIA
Außenwelt. Sie kleiden sich wie andere Mädchen, hören dieselbe Musik und lesen dieselben Bücher wie sie. Sie verbringen ihre Ferien an denselben Orten wie ihre Altersgenossinnen, essen in denselben Pizzerien und haben denselben Geschmack. Die Welt verändert sich und zwingt auch die Mitglieder der Mafiaclans, sich zu verändern.
Vor zehn Jahren war ich im palermitanischen Stadtteil Arenella auf Wohnungssuche. Man stellte mir einen gewissen Signor Piero vor, der mir, wie es hieß, eine Wohnung vermitteln könne, die meinen Wünschen entspreche. Ich erkannte ihn auf Anhieb wieder: Er war ein Mafioso, Bruder eines Mafioso, dem ich häufig im Gericht begegnete. Wir taten so, als würden wir einander nicht kennen. Während wir so redeten, fiel mir auf, dass er wahnsinnig viele Haarschuppen hatte. Das merkte er, und er unterbrach sich und sagte: »Denken Sie nur nicht, dass ich diese Schuppen wegen der Bullen bekommen hätte. Meine Tochter hat mich nervös gemacht, daher kommen diese ganzen Schuppen.« Ich ließ mir weiterhin nichts anmerken. Er aber fuhr fort: »Meine Tochter ist sechzehn, sie läuft in einem Minirock aus schwarzem Leder rum und hat es sich in den Kopf gesetzt, am Konservatorium Musik zu studieren!« Sein Tonfall und sein Blick verrieten mir, was sein Problem war: Er konnte zu Hause nicht mehr bestimmen. Und wenn er zu Hause nicht mehr das Sagen hatte, wie konnte er dann in seinem Viertel den Ton angeben?
In »Signor Pieros« Blick entdeckte ich fast so etwas wie Resignation – es war der Anfang vom Ende seiner Welt. Manche Begegnung, manches Gespräch mit diesen Leuten öffnet einem die Augen – mehr, als es ein Gerichtsprozess oder ein Buch über die Geschichte der Cosa Nostra je könnte.
Nichts stört mich mehr, als für einen Mafiaexperten oder, wie man heute sagt, einen »Mafiologen« gehalten zu werden. Ich bin nur jemand, der an einem Ort im westlichen Sizilien geboren wurde und bis heute dort lebt und der immer versucht hat, die Wirklichkeit um sich herum, die Geschehnisse und die Menschen zu verstehen.
Leonardo Sciascia,
Corriere della Sera
, 19. September 1982
24. Ist die Mafia auch die Hüterin der Sexualmoral ihrer Mitglieder und von deren Familienangehörigen?
Eine Regel der Mafia besagt, Ehrenmänner dürften keine Geliebte haben. In den siebziger Jahren wurde die mafiose Familie von Porta Nuova abfällig »die Familie der Straßenkehrer« genannt, weil zwei ihrer Bosse eine Geliebte hatten. Das galt als unschicklich. Die Form zu wahren blieb für die Cosa Nostra stets das Allerwichtigste. Doch häufig verbirgt die Form das Wesentliche. Vordergründig war es moralisch unschicklich, eine Geliebte zu haben, weil die Familie intakt bleiben und man Kindern und Verwandten ein gutes Beispiel geben sollte. In Wahrheit waren Liebschaften nur aus praktischen Gründen nicht gern gesehen. Die Ehrenmänner befürchteten, dass die Ehefrau oder die Geliebte eines Mafioso früher oder später durchdrehen, eine Eifersuchtsszene machen und den Mann, den sie liebte, womöglich verraten könnte – und damit nicht nur ihn, sondern die ganze Organisation in Gefahr bringen würde.
Tatsächlich sind viele Ehrenmänner nicht monogam, aber sie stellen ihre »Eroberungen« nie zur Schau. Wenn sie eine Geliebte haben, versuchen sie, die Beziehung geheim zu halten, ohne es also herumzuerzählen und ohne es den anderen Ehrenmännern »offiziell« mitzuteilen.
Corleone, Mitte der neunziger Jahre. Der Mittelschullehrer und Ehrenmann Leoluca Di Miceli hatte eine große Zukunft in der Cosa Nostra vor sich. Im Ort hieß es, er werde es noch zum Boss bringen. Doch dann wurden plötzlich Gerüchte über ihn in Umlauf gebracht. Nicht gerade schmeichelhafte Gerüchte, insbesondere in Mafiakreisen. Man munkelte voneiner übermäßigen Schwäche Leolucas für die Frauen. Er war zu sehr mit ihnen beschäftigt. Er verlor zu viel Zeit mit ihnen. Sein Aufstieg in der Cosa Nostra endete abrupt. Und in Corleone kursierte ein weiteres Gerücht über ihn: »Lehrer Di Miceli denkt mehr mit dem Köpfchen unten als mit dem Köpfchen oben.«
La Repubblica
, 8. November 2007
Die Gegenüberstellung von Totò Riina und Tommaso Buscetta im Hochsicherheitsgerichtssaal von Palermo im Frühjahr 1993 verdeutlicht, wie die Mafia über Sexualmoral und Familie denkt.
Es war der Prozess wegen der sogenannten
delitti trasversali
, der Ermordung von Angehörigen reuiger Mafiosi. Riina und Buscetta hätten über Morde,
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