Die Magd und das Teufelskind: Historischer Roman (German Edition)
tatsächlich auf den Hof der Siechen ziehen müsste.
Iven griff nach seinen Kleidern und zog sie über. Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits im weißen Siechenmantel, darunter die Haut bis auf die Knochen zerfressen. In seinen Gedärmen rumorte die Furcht.
Die Sonne schien bereits mit voller Kraft, als Iven an der Straße nach Aachen den Leprosenhof betrat. Eine Gruppe von zwei Männern und drei Frauen, die allesamt graue, bis zu den Füßen reichende Gewänder trugen, begab sich schwatzend in eine Holzhütte. Hinter ihnen her hüpfte ein Mann auf Krücken und hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Das kleine Häuschen, das die Gruppe betreten hatte, war zu allen Seiten mit großen Fenstern versehen.
Kaum war Iven ebenfalls eingetreten, trat die älteste der Frauen auf ihn zu und wies ihn an, sich seiner Kleider zu entledigen. Ihre Nase war bereits so weit verstümmelt, dass ihr die Spitze fehlte. Stattdessen klaffte dort ein Loch im rohen Fleisch. In diesem Augenblick war Iven erleichtert, dass er am Morgen nichts gegessen hatte.
Langsam zog er sich seine Kleider über den Kopf und setzte sich nackt auf den Holzstuhl, der im vollen Licht der Sonne auf einem Podest stand. Wortlos beäugten die Prüfmeister seinen Arm, strichen eine Tinktur auf und salbten ihn. Iven versuchte, die Blicke zu deuten, die sie untereinander wechselten. Doch ihre Mienen waren ausdruckslos, so, als würden sie Obst auf dem Markt begutachten. Unterdessen klopfte Iven das Herz bis zum Hals. Als die Prüfmeister endlich fertig waren, zogen sie sich zur Beratung zurück und ließen ihn allein.
Mit feuchten Händen umklammerte er die Stuhllehne. Er zitterte wie Espenlaub. Die Zeit zog sich zäh wie Brotteig. Warum beratschlagten sich die Prüfmeister nur so lange? Waren sie sich etwa nicht einig? Was, wenn sein Schicksal durch ein Fehlurteil besiegelt wurde? Die Gedanken schlugen Purzelbäume in seinem Kopf und kamen nicht zur Ruhe. Dabei brachte es nichts, sich verrückt zu machen. Ruhig bleiben sollte er. Noch war das Urteil nicht gesprochen. Das sagte ihm sein Verstand, doch sein Herzschlag wollte darauf nicht hören.
Endlich betraten die Prüfmeister wieder die Hütte und stellten sich in einer Reihe vor ihm auf. Nun redet schon! , wollte Iven brüllen, doch sein staubtrockener Mund brachte keinen Ton heraus.
Die älteste der Frauen trat vor. Ihre Miene war ebenso nichtssagend wie während der Untersuchung. »Iven, wir haben dich besehen. Nach ehrsamer und aufrichtiger Form unseres Hofes befinden wir dich als kranken und siechen Mann.«
Die Wände mit den Fenstern begannen, sich zu drehen. Das durfte nicht sein!
Die Prüfmeisterin fuhr fort: »Wir würden dir gern sagen, was du hören wolltest, doch wir sind angehalten, dir das wahre Urteil zu verkünden.« Nun schaute sie Iven eindringlich an. »Übe dich in Geduld, und du wirst ein Kind des ewigen Lebens sein.«
»Was? Ich verstehe nicht ganz.« Iven war von dem Stuhl aufgesprungen. »Was faselst du da? Ein Kind des ewigen Lebens? Ihr habt mich soeben zum Tode verurteilt.«
»Wenn die Seele den Leib verlässt, dann lebt sie in Gottes Nähe weiter. Doch du musst beten, mein Sohn. Gott lässt dich nun auf Erden leiden, aber dafür beschenkt er dich im Himmel mit dem ewigen Leben. Doch dein Geist muss rein sein.«
Iven wollte das alles nicht hören. Nicht wegen ein paar Flecken auf seinem Arm.
»Geh nun und lass den Pfarrer in deinem Kirchspiel deine Seelenmesse lesen. Wenn das geschehen ist, kehrst du hierher zurück. Die Provisoren werden entscheiden, wie viel du für deine Pfründe zahlen musst.« Die Frau hob drohend den Zeigefinger. »Doch denk daran: Geh immer aus dem Wind, wenn du mit jemandem sprichst! Fass kein Brückengeländer an und trink nicht aus einer fließenden Quelle!« Sie reichte ihm ein paar weiße Handschuhe. »Die übrigen Regeln erfährst du, wenn du morgen zurückgekehrt bist.«
Iven glaubte, ein böser Traum hätte ihn heimgesucht. Doch sosehr er sich auch schüttelte, die Hütte blieb an Ort und Stelle und mit ihr die Prüfmeister. Auf wackeligen Beinen trat er schließlich den Heimweg an, um lebendig seiner eigenen Totenmesse beizuwohnen.
14. K APITEL
N och während Gabriel an ihrer Brust getrunken hatte, waren Alena die Augen zugefallen. Erschrocken schaute sie nun auf ihr Kind, das friedlich an ihrem nackten Busen schlummerte. Obwohl sie tief geschlafen hatte, hielt sie es immer noch fest im Arm.
Alena richtete sich auf. Durch das
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