Die Magd von Fairbourne Hall
schritt über den Marmorfußboden zu Lewis und Nathaniel Upchurch hinüber. Oder jedenfalls zu ihren Porträts. Zuerst betrachtete sie Lewis. Dem Maler war es gelungen, das mutwillige Funkeln in seinen goldbraunen Augen einzufangen, und auf seinen vollen Lippen lag der Hauch eines ironischen Lächelns, als wüsste er ein Geheimnis, das er gern mit dem Betrachter teilen würde. Seine Nase war perfekt, seine Züge so wohlgeformt, dass er fast schön zu nennen war – eine Tatsache, der er sich offensichtlich bewusst war.
Sie drehte sich um und betrachtete Nathaniels Bild. Dies war der alte Nathaniel, den sie von früher kannte. Auf dem Porträt trug er zwar keine Brille, aber er machte das ernste Gesicht, an das sie sich so gut erinnerte. Er sah blass aus, sein schmaler Mund wirkte beinahe spröde. Der Maler hatte seine lange, markante Nase nicht gerade wohlwollend behandelt, sondern in langen, gnadenlosen Pinselstrichen wiedergegeben. Seine Augenfarbe – hatte sie seine Augen je aus solcher Nähe gesehen? – war ein stürmisches Blaugrün. Sein Haar, dunkler als das von Lewis, war voll und glatt; er besaß nicht die üppigen Locken seines Bruders. Das Porträt von Lewis war eindeutig das schmeichelhaftere der beiden Bilder. Trotzdem hatte Nathaniel ein sympathisches Gesicht, dachte sie. Sie musste Emilys Cousine recht geben: Es war stark, ernst und männlich.
Plötzlich erblickte sie in einer Ecke des Rahmens eine Spinnwebe und holte automatisch die Bilderbürste aus ihrem Putzmittelkasten, den sie noch immer bei sich trug, beinah so selbstverständlich, als sei er eine natürliche Verlängerung ihres Arms. Sie streifte das störende Fädchen ab. Da sie die Bürste schon einmal in der Hand hatte, staubte sie das Bild vorsichtig, mit federleichten Berührungen, ab – die feste Wange, die lange Nase, den starken Kiefer und den strengen Mund – und wünschte sich dabei, sie würde ihn wieder einmal lächeln sehen.
Schritte auf dem Marmorboden ließen sie zusammenzucken. Sie drehte sich rasch um, ganz verkrampft vor Schreck, und entspannte sich dann, als sie sah, dass es nur Mr Hudson war.
»Du bist aber sorgfältig! Hältst sogar Mr Upchurch in tadelloser Ordnung.« Aus seinen braunen Augen leuchtete der Schalk. »Was meinst du, Nora? Wird das alte Bild ihm gerecht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht!«
»Ach ja?« Er wippte zurück auf seine Fersen; ganz eindeutig hatte er höchstens ein Lächeln oder verlegene Zustimmung erwartet. Er betrachtete das Bild noch einmal. »Aber du hast recht, Nora. Er sieht furchtbar streng aus in dieser Pose.«
»Mr Upchurch lächelt selten, Sir.«
Hudsons Brauen hoben sich, als er sie ansah; dann blickte er wieder auf das Porträt und schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Früher hat er öfter gelächelt. Ich denke dabei vor allem an mehrere glückliche Anlässe auf Barbados …«
Plötzlich hörten sie neben sich ein Räuspern. Beide wandten sich um und Margaret sah erschrocken, dass Nathaniel Upchurch in der geöffneten Tür der Bibliothek stand.
Hudson zuckte zusammen. »Verzeihen Sie, Sir. Wir haben uns nichts dabei gedacht. Wir fanden einfach nur, dass dieses Porträt Ihnen nicht gerecht wird – nicht wahr, Nora?«
Margaret hielt den Blick gesenkt und nickte steif.
Nathaniel verschränkte die Arme. »Und was genau fehlt auf dem Bild, bitte schön?«
Sie hoffte, dass er die Frage an Mr Hudson gerichtet hatte, doch als sie den Kopf hob, sah sie Nathaniels durchdringenden Blick auf sich gerichtet. Sie wand sich. »Ni… – nichts, Sir. Nur dass Sie in Wirklichkeit mehr – Sie haben sich geändert, Sir – Ihre äußere Erscheinung, meine ich, und …«
Er sagte trocken: »Sie meinen also, ich habe mit dem Alter gewonnen?«
Sie schluckte. »Ja, das meine ich.« Und sie wagte hinzuzufügen: »Und ein Lächeln würde Sie noch attraktiver machen, Sir.«
Er runzelte die Stirn. »Ich hatte in letzter Zeit wenig Grund zu lächeln.«
Hudson blickte von einem zur anderen. »Nun, damit werden wir uns noch einmal befassen müssen, nicht wahr, Nora?« Er lachte und zwinkerte ihr unbefangen zu.
Unter Nathaniels forschendem Blick wurden Margarets Wangen heiß. Sie murmelte: »Ja, Sir«, entschuldigte sich und entfloh in die Sicherheit des Souterrains.
Es war bereits nach Mitternacht, als Nathaniel durchs Wohnzimmer ging, um kurz auf den Balkon hinauszutreten. Er konnte nicht schlafen und hoffte, die frische Nachtluft würde ihm helfen, einen klaren Kopf zu
Weitere Kostenlose Bücher