Die Magd von Fairbourne Hall
war aber auch wirklich zu demütigend! Emily würde sie zwar, wenn sie erst einmal den Lachanfall über ihre Kostümierung überwunden hatte, mit Freuden aufnehmen, aber würde sie auch ihre Eltern überreden können? Wahrscheinlich würden sie ihr kein Wort glauben. Sterling konnte so überzeugend sein. Er würde ihnen weismachen, dass sein Neffe ein Ausbund an Tugend sei und sie eine verblendete Närrin, die sich zu viel auf ihren »unwiderstehlichen« Charme zugutehielt. Dann würde Mr Lathrop sie freundlich ermahnen, vernünftig zu sein, und sie ohne Weiteres mit Sterling nach Hause schicken.
Sie schauderte. Statt Emily darum zu bitten, sie bei sich aufzunehmen, sollte sie sie vielleicht lieber fragen, ob sie ihr etwas Geld leihen könnte, damit sie die Stadt verlassen und irgendwohin gehen konnte, wo sie sicher war. Margaret würde es ihr mit Zinsen zurückzahlen, sobald sie in den Besitz ihres Erbes gekommen war. Der Gedanke, sich Geld von ihrer Freundin zu leihen, widerstrebte ihr zutiefst. Aber sie musste ihren Stolz über Bord werfen. Sie zog die Haube fester über ihre schwarze Perücke und die Brille, und ihr wurde klar, dass sie das bereits getan hatte.
Die beiden Mädchen gingen in nördlicher Richtung und bogen dann in den hübschen, ruhigen Red Lion Square ein. Sie durchquerten eine kleine Parkanlage; jetzt ging Margaret vor. Schließlich blieb sie hinter einem Baum stehen, um das Stadthaus der Lathrops auf der anderen Straßenseite zu beobachten. Joan war direkt hinter ihr. Es war ganz still, kein Laut war zu hören, bis auf ein Pferd, das mit dem Schweif schlug – ein paar Häuser entfernt wartete eine Kutsche am Straßenrand.
Margaret wollte gerade die Straße überqueren, als sie voller Entsetzen den Landauer mit den Messinglampen und auch den Kutscher, der die Zügel hielt, erkannte. Rasch zog sie sich wieder hinter den Baum zurück. Während sie noch vorsichtig dahinter hervorspähte, wurde plötzlich die Vordertür der Lathrops geöffnet und Sterling Benton tauchte auf. Er stand im Licht der Lampe auf der obersten Treppenstufe und sprach ernst mit Emily Lathrops Vater. Dabei schüttelte er düster den Kopf, der Inbegriff eines besorgten Stiefvaters. Mr Lathrop nickte. Die beiden Männer gaben sich die Hand.
Sterling hatte rasch gehandelt. Sie und Joan hatten das Haus vielleicht vor dreißig, vierzig Minuten verlassen. Zwar waren sie zu Fuß gegangen, während Sterling ein Pferd und eine Kutsche zur Verfügung hatte, aber trotzdem – er oder Marcus musste unmittelbar nach ihrer Flucht in ihr Zimmer gekommen sein und entdeckt haben, dass sie fort war. Gott sei Dank hatte sie das Haus so schnell verlassen!
Ein Pferd galoppierte die Straße entlang und Margaret lugte wieder hinter dem Baum hervor. Ein Mann mit Zylinder und kurzem Mantel kam herbeigeritten, stieg rasch ab und band sein Pferd an einem Pfosten fest. Die Eile, in der er zu sein schien, versetzte Margaret in Alarmbereitschaft. War das vielleicht der Mann aus der Bow Street, den Murdoch angekündigt hatte, kurz bevor sie geflohen war? Hatte Sterling beschlossen, einen Aufpasser für sie zu engagieren, und den Mann jetzt beauftragt, sie aufzuspüren und zurückzubringen?
Der Ankömmling ging auf Sterling und Mr Lathrop zu. An der Treppe blieb er stehen und die drei Männer sprachen miteinander. Sterling gestikulierte und runzelte die Stirn. Er holte etwas aus der Tasche und reichte es dem Mann, der es beflissen entgegennahm. Sie konnte aus der Entfernung nicht erkennen, was es war, doch aus der Haltung, in der der Mann es betrachtete, schloss sie, dass es sich um ein Miniaturporträt handelte – vielleicht um das, das ihr Vater zu ihrem achtzehnten Geburtstag in Auftrag gegeben hatte?
Anscheinend hatte Sterling den Mann an den Ort befohlen, an dem er Margaret zu finden erwartete – und an dem er sie tatsächlich gefunden hätte, wenn sie nur fünf Minuten früher gekommen wäre! Sterling Benton kannte sie besser, als ihr bewusst gewesen war. Der Gedanke macht ihr Angst. Wo konnte sie hingehen, wo sich verstecken? Wo würde Sterling Benton sie niemals suchen?
Ein paar Minuten später fuhr Sterling in der Kutsche davon und Mr Lathrop ging ins Haus zurück. Der Reiter jedoch blieb da und lehnte sich gegen das Treppengeländer.
»Und jetzt?«, flüsterte Joan.
»Der Wachmann – oder was immer er ist – scheint sich auf ein längeres Warten einzurichten. Es sieht nicht so aus, als ob er sich hier so bald wieder wegrühren
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