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Die Magie des Falken

Die Magie des Falken

Titel: Die Magie des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruben Philipp Wickenhaeuser
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Botschaften der Götter. Doch war dieses Gefühl unvergleichlich viel stärker als sonst. Kyrrispörr sah alles mit unglaublicher Schärfe, jeden Riss im Holz der Bank, jede Bewegung im Wasserdampf, jede Pore auf der Samthaut des Patienten, ja, die Äderchen in den Augäpfeln, die Falten auf den Gelenken seiner eigenen Finger. Und plötzlich das Feuer. Die Flucht aus der brennenden Falle, die Olafr Tryggvason den Seimenn gestellt hatte. Die Atemnot war wieder da, die Hitze des Brandes in der Festhalle, der Unheil verkündende Flackerschein der Flammen … Eyvinds Hilfe bei der Flucht … Und dann dachte er an einen anderen Brand, der viele, viele Jahre zurücklag und an den Kyrrispörr sich gar nicht mehr genau hatte erinnern können: Das brennende Dorf bei Heiabýr, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Er sah seine Mutter, die tot im Eingang des Hauses lag, hingestreckt vom Speer eines Dänen, und über ihr schlugen die Flammen unter dem Türsturz durch. 
    Erst, als Eyvindr ihn an der Schulter aufrichtete, merkte er, dass er zusammengebrochen war. Eyvindr sprach kein Wort. Eine unheimliche Stille hatte sich über die Sauna gelegt. Der Dampf hatte sich gelichtet, und die Hitze war erträglich geworden. In Kyrrispörrs Kopf wummerte es. Þorkell lag friedlich an seinem Platz, hatte die Augen geschlossen und seine Lippen waren ganz entspannt; es schien, als ob er schlafen würde. Kyrrispörr dagegen fühlte sich aufgewühlt und musste das Bild zurückdrängen, das ihm in den Kopf gekommen war, seine Mutter im brennenden Haus …
    Eyvindr wies Kyrrispörr mit einer Geste an, Stein, Kraut und Runen fortzunehmen. Anschließend breitete er die Hände über dem zierlichen Körper aus. Beinahe hätte Kyrrispörr erschrocken aufgeschrien: Unerwartet versetzte Eyvindr dem Knaben zwei kräftige Schläge mit der flachen Hand auf die Brust. Der Junge fuhr mit einem erstickten Aufschrei hoch. Eyvindr stellte ihn auf die Beine und befahl Kyrrispörr mit einer Geste, ihn zu halten, während der Meisterseher damit begann, Þorkell von oben bis unten abzuklopfen. Es war, als würde er das Leben in den Patienten zurückklopfen.
    Immer noch schweigend, führten sie Þorkell hinaus. Die Kälte traf Kyrrispörr wie ein Hammerschlag. Obgleich es für Þorkell umso kälter sein musste, wurde er ohne wärmende Decken quer durchs Dorf zu seiner Familie geführt – erst dort nahmen die Mutter und Geschwister ihn in Empfang und schlugen ihn sogleich in ein Fell. Eyvindr ging inzwischen mit Kyrrispörr zurück zu seinem Grubenhaus. Seit dem Zusammenbruch hatten sie keinen Ton gesagt.
     
    Am kommenden Morgen schickte Eyvindr ein Kind nach Kyrrispörr. Als er von dem stämmigen Wächter ins Grubenhaus eingelassen worden war, sah Kyrrispörr ein Fässlein, das neben dem Eingang stand.
    »Das ist Honig«, ließ sich Eyvindr vernehmen. »Þorkell geht es besser. Aber ob er gesundet, das liegt nicht in unserer Hand. Merke dir, Kyrrispörr: Wir können die Götter nur gnädig stimmen. Du warst ein guter Helfer.« Kyrrispörr freute sich über das Lob. »Mir scheint, du hast das Böse, das den Knaben ergriffen hatte, in dich aufgenommen. Deswegen dein Zusammenbruch. Und du hast es besiegt.« Wiederum senkte Kyrrispörr den Blick ob des Lobes. Eyvindr hatte recht: Dass er ausgerechnet das schrecklichste Erlebnis seines Lebens, die Vernichtung seines Dorfes, neu durchlebt hatte, konnte nur von einer bösen Kraft verursacht worden sein.
    »Du hast dem Jungen sehr, sehr geholfen. Während du … fort warst, hast du gemurmelt und geschrien. Du bist immer noch verstört, wie mir scheint.« Eyvindr bündelte einige Kräuter und hängte sie an einen Balken.
    »Als Seimar wirst du das ertragen müssen. Man fürchtet uns für unsere Flüche, aber das Heilen, Kyrrispörr Hæricson, das Heilen ist viel schwerer. Übe dich jetzt mit Feilan im Kampf. Heute Abend werde ich dich die Kraft einiger Kräuter lehren. Ich würde dich gern unterrichten, wie es üblich ist, und dich wieder und wieder jede Zeremonie beobachten lassen, aber dazu fehlt uns die Zeit. Du wirst schnell lernen müssen …«
    Kyrrispörr verneigte sich. So ungern er zu dem sauertöpfischen Feilan und dem strengen Orm Hrolofson ging, so glücklich fühlte er sich, von Eyvind Kelda unterwiesen zu werden. Als er heute Speer gegen Speer mit Feilan kämpfte, konnte ihm nicht einmal dessen hochnäsige Miene die Laune verderben. Die kräftigen Speerstöße, auch die schmerzhaften

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