Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
sich geweigert, sich zu rühren. Mutter hatte Falkin auf den Arm genommen. Sie war ins Hinterzimmer des Ladens gerannt, in ihren engen Wohnbereich. Mutter hatte das Kind abgesetzt, den Tisch beiseitegeschoben und den alten Webteppich hochgehoben. Eine dünne Seilschlaufe hatte auf den schmutzigen Bodenbrettern gelegen. Mutter hatte sie gepackt und gezogen. Zu Falkins Erstaunen hatte sich der Boden geöffnet und ein dunkles Loch darunter enthüllt. Mutter hatte ihr bedeutet hineinzusteigen.
»Ich komme gleich nach, mein Schatz.«
Das war Falkins letzte klare Erinnerung. Sie wusste zwar noch, dass sie sich in das Loch hatte fallen lassen, aber danach kam nur ein undeutliches, wirres Bild aus Schreien und Feuer, dann das Glitzern von Silber an einer Hand, die aus einer dichten Rauchwand heraus nach ihr griff, und dann … laufen. Laufen, so schnell ihre Kleinmädchenbeine sie trugen, laufen durch die muffigen, moderigen Seitengassen von Eldraga.
Diese Geschichte hatte sie noch nie zuvor jemandem erzählt. Wem konnte sie ein solches Wissen denn anvertrauen? Ihre engsten Freunde hätten ihr Vertrauen zwar nie von sich aus missbraucht, aber jeder Magus, der sein Handwerk verstand, konnte einem ungeschützten Verstand die Nachricht entlocken und im Zuge dessen wahrscheinlich noch die arme Seele umbringen. Wenn jemand, den sie liebte, ihretwegen starb – noch jemand, so mahnte sie sich selbst mit Bitterkeit -, dann glaubte sie nicht, dass sie das Leben noch würde ertragen können.
McAvery starrte sie an, wartete auf ihre Antwort. Sein durchdringender Blick ließ das Blut zurück in ihren Körper rauschen, und die plötzliche Wärme machte sie schwindelig. Bei den Göttern – er war schön genug, um ihr den Atem noch in der Brust zu verschlagen! Sie hatte sich lange genug in den Häfen herumgetrieben, um zu wissen, was vorging. Die Hitze, die er in ihr aufwallen ließ, mochte zwar machtvoll und anziehend sein, aber sie war keineswegs echt. Das Spiel hatte lange genug gedauert. Sie stand auf, marschierte zur Tür und öffnete sie. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie den Stein in ihre Hosentasche fallen, hob den Kopf wie eine Königin und starrte zu ihm zurück.
»Wenn Ihr die Wahrheit verleugnet, bringt Euch das doch nur um einen guten Nachtschlaf.« Er streckte sich auf der Bank aus und stützte den Kopf in die Hand. »Ihr schuldet mir eine Antwort. Ich werde sie bekommen.«
»Ihr schuldet mir ein Schiff.«
»Dann stehen wir wohl im Patt«, sagte er. »Ich gebe Euch eine Möglichkeit. Ihr seid dem König nicht treu ergeben. Eure Sache, das geht mich nichts an. Die Pflanze ist wertvoller als irgendetwas sonst auf dem Schiff. Ihr wollt Euren Kapitän wieder zurück? Das ist die beste Währung, um ihn freizukaufen.«
Falkins Knie waren so weich wie eine überreife Pflaume. Aber an der Tür zu lehnen und auszusehen, als beobachte sie McAvery, das ging doch ganz und gar nicht. Sie richtete sich also auf, schloss die Tür und ging dann in ihre Kajüte zurück. Bardo winkte ihr wieder zu, aber diesmal erwiderte sie seine Geste nicht. Sie betrat die Kajüte so leise sie konnte und rollte sich in ihre Hängematte. Shadd schlief tief und fest.
»O Gott, Artie«, murmelte sie in die Dunkelheit hinein. »Wird dieser Mann tatsächlich die Oberhand über mich gewinnen?«
Gerade, als sie die Augen schloss, schreckte ein winziges Aufblitzen von Licht sie auf. War es nicht blau? Sie sah hinunter, aber der Stein in ihrer Tasche blieb dunkel.
Kapitel 22
… ein schönes Schiff vielleicht, das auf dem Blau der glatten See beim Purpur zweier Inseln mit weißen Segeln aufblitzt …
Samuel Taylor Coleridge
DIE NÄCHSTEN BEIDEN TAGE über beschäftigte sich Falkin damit, das Schiff zu führen. Von den ersten Fingern der Morgenröte bis zur Schwärze der tiefsten Nacht trieb sie sich bis an die Grenzen ihrer Kraft und tat, was sie nur konnte, um nicht an McAvery und seine Magie denken zu müssen. Das war nicht einfach, da sein Bürgenstein noch immer auf ihrem Tisch neben seiner Pflanze lag. Es war ja nicht so, dass sie Angst gehabt hätte, eines von beidem zu berühren, aber wenn sie ihm Stein oder Pflanze zurückgab, würde sie gezwungen sein, mit ihm zu sprechen, und sie hatte nicht das geringste Interesse daran, ein Gespräch mit ihrem schurkischen Schiffbrüchigen zu beginnen. Ganz gleich wie sie sich die Begegnung auch ausmalte, sie wusste doch, dass er sie nicht ohne eine weitere komplizierte
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