Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
drohten, sie bei jedem Schritt, den sie machte, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Leben war in Hosen und Stiefeln so viel einfacher. Es erfüllte sie mit Beklommenheit, bei jedem Schritt aufpassen zu müssen. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass es ausgereicht hätte, an diesem Ort erkannt zu werden, um in eine Zelle gleich neben Binns geworfen zu werden. Jetzt einfach nur in Olympias Schlepptau durch diese Türen spazieren, dann würde sie binnen weniger Minuten ihren Freund besuchen können …
Sie stieg die glänzenden Marmorstufen empor und raffte ihre Röcke so, wie Olympia es getan hatte. Eine irrationale Sekunde lang malte sie sich aus, was für einen üblen Sturz sie sich einhandeln konnte, wenn sie auf derart glatten, harten und kalten Stufen ausglitt. War das der Grund dafür, dass man Gerichtsgebäude aus solchen Materialien errichtete? So, dass die angeklagten Verbrecher hingerichtet werden konnten, ohne dass man sich die Mühe einer eigentlichen Gerichtsverhandlung machen musste? Sie vermisste das Holz ihres Decks unter den Füßen.
Olympia blieb auf der obersten Stufe stehen. Sie krümmte einen Finger. »Komm mit, Kind«, befahl sie. »Ich werde auch nicht jünger.« Sie drehte sich um, eine ungekrönte Königin, und marschierte ins Gerichtsgebäude. Falkin folgte ihr auf dem Fuße.
Sie war damit aufgewachsen, Eldragas Straßen zu durchstreifen, und glaubte jeden Zoll der Insel zu kennen. Aber bettelarme Waisenkinder neigten nicht dazu, Gerechtigkeit im Gerichtsgebäude zu suchen, und so hatte sie noch nie einen Fuß hineingesetzt. Die Luft war so kühl, als ob die Winterwinde ständig durch die Gänge bliesen. Die Decke wirkte schwindelerregend hoch. Gewaltige Wände waren mit Wandteppichen in satten Farben bedeckt; sie zeigten alte Schlachten und Krönungen von Königen, deren Namen längst vergessen waren. In der Mitte des gigantischen Raums stand eine Kanzel aus dunkelrotem Holz, höher, als Falkin groß war. Darin saß ein Mann, der in die blauen Roben eines eldragischen Beamten gekleidet war; bleich und verkniffen hielt er einen Federkiel in der Hand. Beim Klack-klack-klack von Olympias Schuhen auf dem Marmorboden sah er auf. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, wie die Sonne an einem regnerischen Tag durch die Wolken bricht.
»Sieh an, Frau Camberlin! Was für eine angenehme Überraschung!« Er strahlte. »Welchem Umstand verdanke ich diesen Besuch?«
»Ich würde ja gern sagen, dass ich Euch hübschen Kerl vermisst habe, aber wir wissen beide, wo Ihr vor drei Nächten gewesen seid«, sagte Olympia mit einem gekünstelten Lächeln. »In Wirklichkeit aber habe ich hier etwas zu erledigen. Im Gefängnis.«
Er nickte; sein Lächeln wurde nicht schwächer. »Was habt Ihr denn vor, mit dem Korb dort auf der Hüfte?«, fragte er. »Ich werde ihn inspizieren müssen. Ich kann nicht zulassen, dass Ihr einem der Gefangenen heimlich einen Dietrich oder einen Dolch bringt.«
»Dummkopf! Als ob ich wollte, dass einer dieser verzweifelten Gesetzlosen auch noch frei auf der Straße herumläuft«, antwortete sie. »Dieser Korb ist natürlich für Euch und die anderen Herren.« Sie zog das darübergebreitete Leintuch zurück und enthüllte die goldbraunen Oberseiten von frisch gebackenen Muffins; jeder war so groß wie eine kleine Melone. Der leckere Duft, der aus dem geöffneten Korb aufstieg, ließ Falkin das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Offenbar hatte er dieselbe Wirkung auf den Bürokraten. Seine Augen weiteten sich, und er leckte sich die Lippen. »Die sehen wirklich gut aus. Ich sehe keinen Grund, dass Ihr nicht erledigen könnt, was Ihr wollt, während ich Frühstückspause mache.«
Olympia hob einen gewaltigen Muffin heraus und legte ihn in seine wartenden Hände. »Genießt ihn. Wir werden nicht lange brauchen.« Sie legte die Abdeckung wieder darüber und klack-klackte an der Kanzel vorbei, auf eine breite Holztür an der Rückseite des Raumes zu. Sie öffnete sich auf einen langen, fensterlosen Korridor, der alle paar Fuß von flackernden Fackeln erhellt wurde. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall hinter ihnen zu.
»Essen?«, fragte Falkin schließlich. »Du bestichst sie mit Muffins?«
»Mit Muffins, Keksen, einer herrlichen Fleischpastete … Das ist eine bessere Verlockung als Geld«, flüsterte Olympia, während sie gingen. »Wenn man für kleine Gefallen erst einmal Geld ausgibt, wollen sie am Ende mehr. Sie werden nervös, glauben, dass sie auf Nummer sicher
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