Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
Schiff auch nicht besser sehen können als er, da es so weit entfernt war, dass es für sie nur einen Schimmer jenseits des Ozeans bedeutete. Es konnte jedes beliebige Schiff sein. Irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr aber, dass sie recht hatte. Die Vogelfrei fuhr vor ihnen – und sie durften sie nicht entkommen lassen.
Tom ließ das Fernrohr sinken, und zu Falkins großer Erleichterung breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ja«, sagte er, »kein Zweifel, das ist unser Vögelchen.« Er reichte Falkin das Fernrohr wieder hinunter. »Wie lauten deine Befehle, Käpt’n?«
Die Unruhe in ihrem Magen ließ nach und wurde von einer schwindligen Benommenheit verdrängt. Sie hatte es geschafft! Sie wollte übers Deck tanzen, ihren Sieg über die Wellen zu Binns hinausrufen, der in Ketten geschlossen in einem dunklen Frachtraum irgendwo da draußen saß, aber sie kämpfte den Drang nieder, hielt ihr Gesicht ruhig und ihre Füße still. »Wo genau befinden wir uns?«
»Südwestlich von Cre’esh. Wir werden die Zähne nach Sonnenaufgang passieren.«
Falkin runzelte die Stirn. Die seichten Untiefen und zackigen Felschen, die als die Zähne von Cre’esh bekannt waren, hatten schon bessere Schiffe als jedes dieser beiden hier versenkt. Die meisten Seeleute vermieden es, auch nur in der Nähe der Zähne vorbeizusegeln. Wenn die Untiefen die Schiffsrümpfe nicht an der Unterseite aufrissen, konnten die launischen Strömungen leicht schwächere Schiffe in den Schlund ziehen, einen monströsen Strudel, der sich dort drehte, wo einst Land gewesen war. Es war gut, dass sie nicht nahe daran vorbeikommen würden, bevor es hell wurde.
»Wende und nimm die Verfolgung auf. Bleib ihm dicht auf den Fersen, aber nicht zu dicht. Pass auf die Riffe auf.« Sie gähnte; die Bürde dessen, was sie getan hatte, legte sich plötzlich so schwer auf ihre Schultern wie ein feuchter Mehlsack. Ihr fiel ein, dass sie seit der Nacht vor Binns’ Verhaftung nicht mehr geschlafen hatte – nur die Sorge hatte sie aufrecht gehalten. Sie würde keine bessere Gelegenheit mehr bekommen, besonders dann nicht, wenn ein Kampf drohte. Sie würde ihrer Mannschaft außerdem wenig nützen, wenn sie so erschöpft war, dass sie zusammenzubrechen drohte. Binns hatte regelmäßig geschlafen. Das konnte sie auch. »Ich hol mir eine Mütze voll Schlaf. Weck mich vor Sonnenaufgang.«
Ein junger Seemann mit flammend rotem Haar und einem sommersprossenübersäten Gesicht berührte sie am Arm. »Und was soll ich tun, Käpt’n?«
Falkin suchte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen des Jungen … Hudee, so hieß er. Mittleres Kind einer Bauernfamilie, keine Zukunftsaussichten und nicht viel zu verlieren, wenn er die Gesetze brach. Binns hatte ihn erst vor ein paar Wochen angeheuert. Guter Kerl, er hatte sich als sehr geschickt mit den Tauen erwiesen. Würde vielleicht mal ein guter Bootsmann sein, wenn er lange genug überlebte. Sie wies mit einer Hand auf die Ladeluke.
»Ich will die Kanoniere vor der Morgendämmerung geweckt haben. Kipp sie aus den Hängematten, wenn’s sein muss, aber sorg dafür, dass sie auf den Beinen sind, wenn ich sie brauche.«
Hudee grinste und wackelte mit dem Kopf. »Aye aye, Käpt’n, wird gemacht.«
Sie sah auf die behelfsmäßige Hose hinab, die sie immer noch trug, und verzog das Gesicht. »Noch eins, mein Junge. Ich habe die Kajüte schon durchsucht, aber der letzte Kapitän dieses Schiffs war breiter gebaut als ich. Such unten und sieh nach, ob du nicht vielleicht eine anständige Hose für mich auftreiben kannst.«
Er nickte und lief zur Ladeluke. Ein weiteres gewaltiges Gähnen kämpfte sich an die Oberfläche. Falkin wandte sich ab und marschierte auf die Tür der Kapitänskajüte zu, zu der Hängematte hin, die jetzt Trost und Ruhe versprach. Ihre Schulter hatte noch nicht ganz zu schmerzen aufgehört, und Falkin bemerkte, dass das Wort Kapitän sie zum ersten Mal nicht gestört hatte.
Kapitel 17
Das Boot kam nah ans Schiff heran, Gleich hörte man den Laut.
Samuel Taylor Coleridge
»KIN? KAPITÄN?«
Ungezielt schwang Falkin die Faust in ungefähr die Richtung, in der die lästige Fliege schwirrte, die ihren Namen brummte, und traf auf etwas verdächtig Fleischiges. Wie sollte das Ungeziefer auch ihren Namen kennen? Neugierig öffnete sie ein Auge.
Gar kein Insekt, sondern eine riesige Ratte stand neben ihrer Hängematte, trug Hemd und Hose und rieb sich die Wange. Falkin schüttelte den
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