Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
tiefen, zitternden Atemzug und ließ sich die salzige Luft in die Lunge strömen. Es war noch nicht vorüber. Sie würde das Logbuch lesen und sich jede Weisheit, die Binns darin hinterlassen hatte, aneignen. Aber sie würde auch darauf vertrauen, dass McAvery die Wahrheit gesagt hatte und sie ihm dicht auf den Fersen war.
»He, Kin!«, rief der Rote Tom. Er umklammerte mit einer Hand noch immer das mächtige Steuerrad; sein Gesicht wurde von der halb geschlossenen Sturmlaterne, die von der Spiere über seinem Kopf hing, gespenstisch beleuchtet. Er wies in die tintenschwarze Dunkelheit. »Schwing dein Fernrohr mal da hin – ich hab da irgendwas blitzen sehen!«
Sie hob das Fernrohr ans Auge und suchte in der Richtung, in die er gedeutet hatte. Es verschlug ihr den Atem. War das möglich? So rasch? Etwas Weißes schimmerte am mitternächtlichen Horizont, an dem die See auf den Himmel traf. Eindeutig ein Segel. Doch war es zu weit entfernt, um auszumachen, um welche Art Schiff es sich handelte oder wer an Bord sein mochte. Aber sie grinste, und ihr Herz klopfte vor Aufregung. Er war es. Er musste es sein. Ein kleinlicher Gedanke kämpfte sich an die Oberfläche und versuchte, sie daran zu erinnern, dass der Ozean groß war und auch andere Schiffe außer demjenigen, das sie suchte, das Recht hatten, ihren Weg zu kreuzen. Sie schob den Zweifel beiseite, weil sie sich keinen Augenblick lang damit befassen wollte. Sie ließ das Fernrohr an ihre Seite sinken und wandte sich dem Roten Tom zu.
»Nun, Jungs, unsere Beute ist in Reichweite.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Wer hat Lust, ein bisschen Jagd auf sie zu machen?«
Der Rote Tom, der die Hände noch immer ums Steuerrad geschlungen hatte, starrte vom hohen Achterdeck auf Falkin herab und verzog unsicher einen Mundwinkel. »Bist du sicher, Kin? Is’ doch dunkel und so. Was denn, wenn das dahinten bloß ein Fischerboot ist?«
Ihr Magen zog sich vor Enttäuschung zusammen. Er stellte ihren Befehl infrage. Sie hatte schon damit gerechnet, dass das geschehen würde. Zur Hölle, die Tatsache, dass sie bis jetzt getan hatten, was sie gesagt hatte, hätte ihr schon als ein Wunder erscheinen sollen. Vielleicht hatte sie sich zu sehr an das Gefühl gewöhnt, die Macht zu genießen, die ihr nach Binns’ Verhaftung in den Schoß gefallen war. Jetzt, da die Wirklichkeit über sie hereinbrach, spürte sie, wie Panik sie überkam und ihren Griff immer weiter verstärkte. Die Luft, die noch vor einem Augenblick frisch und reinigend gewesen war, war nun stickig geworden. Falkin rang nach Atem.
Denn – ob sie es nun zugeben wollte oder nicht – er hatte ja recht. Sie führte sie über den Ozean, um ein weißes Aufblitzen in finsterster Nacht zu jagen – jedoch nur, um dann herauszufinden, dass es nicht die Vogelfrei war? Die Götter allein wussten, wie viel Vorsprung McAvery dann vor ihnen haben würde. Jede Kontrolle, die sie über diese Mannschaft ausübte, würde sich dann so schnell verflüchtigen, wie eine Möwe vor einer Windböe davonstob. Wenn sie Glück hatte, würde sie sich nur mit einem Kompass und einem Wasserkrug in einem Beiboot ausgesetzt finden. Aber wenn es doch die Schaluppe war und sie die Verfolgung nicht aufnahmen, würde McAvery ungeschoren davonkommen und Binns gehenkt werden. Das war kein Risiko, das sie einzugehen bereit war.
Der Anblick von Binns in seinem roten Hemd kehrte ihr schlagartig ins Gedächtnis zurück, gemeinsam mit dem, was er ihr verraten hatte. Und blitzartig verstand sie die Lehre, die er ihr auf seine schroffe Art hatte erteilen wollen. Es spielte keine Rolle, ob die Männer gewusst hatten, dass sie verwundet gewesen war, als sie gegen Cragfarus gekämpft hatte, genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, ob sie wussten, dass ihr Kapitän durch sein rotes Hemd hindurchblutete. Das Wichtige war nicht, was die Männer sahen, sondern das, was man sie zu sehen glauben machen konnte. »So’n bisschen geschummelt«, hatte Binns es genannt. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie auch ein bisschen schummelte.
»Sieh genauer hin.« Sie hielt dem stirnrunzelnden Piraten das Fernrohr hin und drängte ihn, es ans Auge zu setzen. »Siehst du es? Sieh dir an, auf welche Weise das Marssegel flattert. Und das kleine Zittern, wenn das Schiff aus der Dünung hervorbricht? Das ist ohne Zweifel die Vogelfrei und kein anderes Schiff.«
Sie beobachtete sein Gesicht, während er über das dunkle Wasser starrte. Nahm er ihr den Unsinn ab? Sie hatte das
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