Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
ihn auch nur in Erwägung ziehen wollte. Sie blätterte die Seiten schneller um, suchte nach einem Wort oder einer Formulierung, die ihr ins Auge sprang, flehte die Götter an, ihr durch irgendetwas zu beweisen, dass sie mit ihrem Verdacht falsch lag.
Die Wörter sausten vorbei. Die Kringel unten auf den Seiten wanden und krümmten sich wie winzige Geschöpfe, die über das Pergament tanzten. Falkin hielt inne.
Wofür standen diese Muster? Sie mussten eine Sprache sein. Wann hatte Binns sie zu schreiben gelernt? Soweit sie wusste, konnte er sich selbst in der Verkehrssprache nur so gerade eben ausdrücken. Sie biss sich auf die Lippe. Ein winziger Blutstropfen quoll hervor; sie leckte ihn rasch ab. Ihr wurde bewusst, dass sie mit jedem Tag weniger und weniger wusste.
Dann hob sie das offene Logbuch hoch und schlug es fest auf den Tisch. »Du sollst verflucht sein, Artie! Warum hast du mir nichts erzählt?«, grollte sie. Der Klang ihrer Stimme entsetzte sie selbst in der Stille der Kajüte. Shadd murmelte etwas und wälzte sich auf die andere Seite, schlief aber weiter.
Falkin sah wieder das Buch an. Die seltsamen Figuren am Ende jeder Seite schienen sich zu bewegen, neue Formen anzunehmen. Zu Buchstaben zu werden, die ihr vertraut waren. Zu Wörtern. In der unverkennbaren Handschrift ihres Kapitäns geschrieben. Sie erschauerte. Der Rum war noch zur Hand, also kippte sie den letzten Schluck herunter und kehrte dann zur Anrichte zurück, um sich das Glas neu zu füllen.
Magie. Genau wie damals, als sie auf die Illusionskarte geklopft hatte und so die Männer wieder hatte erscheinen lassen, bildeten sich Buchstaben, wenn man das Buch hinschlug. Warum verwendete Binns Magie? Wie konnte er das tun? Er war doch nur ein ehemaliger Schankknecht, den man zu einem Leben auf See gezwungen hatte. Nicht wahr?
Falkin nahm ihr Glas mit zurück zum Tisch und setzte sich hin, um zu lesen.
Kapitel 20
… und bis die böse Mär’ erzählt Brennt mir nun arg das Herz.
Samuel Taylor Coleridge
DIE NACHRICHT, von der ich gehofft hatte, sie nicht hören zu müssen, wurde heute überbracht , schrieb er. Der Plan droht zu misslingen. Die verfluchten Hunde sind auf der Jagd. Ein Quäntchen Glück scheint aber noch auf meiner Seite zu sein: Wegen des Sturms habe ich mich zwar verspätet, doch es ist mir gelungen, den Buben heute Abend in Eldraga in die Finger zu bekommen. Er ist jünger, als ich erwartet hätte, gab mir jedoch das Zeichen. Auch noch gut aussehend. Hat mich nicht gewundert, dass Kin ihm nicht über den Weg traut.
»Ich habe gut daran getan, das nicht zu tun!«, murmelte sie. Und daran würde sich nichts ändern. Nur, weil er mit ihrem Kapitän zusammenarbeitete, war er noch nicht gleich unschuldig.
Sie ist eine hervorragende Maatin, aber weil sie so aufmerksam zugesehen hat, haben wir eine ganze Weile länger gebraucht, unser Geschäft abzuschließen. Ich hätte ihr früher davon erzählen sollen, als wir noch Gelegenheit dazu hatten. Wenn das hier alles vorüber ist und die Sanguina in den richtigen Händen … Wenn wir das hier alle überleben sollten …
Ihr was erzählen sollen? Es war schwer genug für sie zu glauben, dass er geschäftlich mit McAvery zu tun hatte, aber was hätte er ihr gern schon früher erzählt? Und was war eine Sanguina? Falkin blätterte um.
Wenn wir die Sanguina auf die Vogelfrei gebracht haben wie geplant, werden wir die Schiffe tauschen, und er wird die Lieferung vornehmen. Jeremies Hunde suchen uns beide, aber soweit wir es abschätzen können, wissen sie nur von der Thanos. Jeremie bezahlt nicht gut genug, um schlaue Kerle anheuern zu können.
Eis schoss durch Falkins Adern und sie umklammerte den Tisch mit beiden Händen, da sie befürchtete, sonst zu Boden zu gleiten. Die Kopfgeldjäger! Sie hatte angenommen, dass sie auf der Jagd nach McAvery waren, wegen irgendeiner unbezahlten Schuld oder eines gestohlenen Kleinods. Und jetzt erzählte Binns, dass sie die Thanos verfolgt hatten. Was war mit Cazador? Arbeitete er mit den ersten beiden zusammen, wie sie angenommen hatte? Oder war er mehr? Noch eine Verwicklung.
Hinter ihren Augen keimte ein Schmerz auf. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und rieb sich die Schläfen. Nun segelte sie schon vier Jahre unter diesem Mann und fühlte sich jetzt, als hätte sie ihn nie gekannt. Warum hatte er sich ihr nicht anvertraut? Es musste mehr sein als nur irgendein Beschützerinstinkt. Er hatte sie in all den
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