Die magische Fessel
Körperkräften Gebrauch machen müssen, denn das Eiland war eine Welt des Friedens gewesen, wo jeder des anderen Bruder war. Nun umklammerte seine Hand den Griff des Schwertes. Nun schlug sein Herz bis zum Hals, als er vor jeder Wegbiegung stehenblieb und um die Ecken spähte, nach Feinden Ausschau haltend, wo es keine Feinde geben durfte.
»Laß uns umkehren«, kam es leise von Makbor, dessen Körper wie ein rundes Nest von doppelter Kopfgröße dort zwischen den zehn dürren und langen Beinen ruhte, wo sie in der Mitte einknickten und zusammenwuchsen. Makbors sechs Augen funkelten ängstlich. »Es ist uns nicht bestimmt, die Tempel zu betreten.«
»Schweig!« herrschte Tartan ihn an, doch auch nur, um die eigene Unsicherheit zu überspielen. »Du hast gehört, was Koon sagte.«
Und Koon hatte gesprochen:
» Nur mächtige, aus dem Nichts gekommene Feinde können Oomyd zum Verstummen gebracht haben! Sie mögen aus der Ferne gewirkt haben, doch sie werden über dem Eiland erscheinen, um ihr unseliges Werk zu begutachten und von Oomyds Welt Besitz zu ergreifen! Seht, die Halme des Korns welken bereits! Wir werden den Fremden schutzlos ausgeliefert sein, wenn sie kommen, um uns den Mächten der Finsternis zum Fraß vorzuwerfen! Wir werden geschwächt sein, ausgehungert und ohne Oomyds Schutz! Darum geht in die Tempel und sucht nach einem Zeichen, daß Oomyd noch in seinem eigentlichen Reich weiterlebt, im Herzen seiner Macht! Doch habt acht! Ein Voraustrupp der Feinde kann bereits angelangt sein und euch auflauern! Lernt zu kämpfen, solange noch Zeit ist. «
Koons Worte hallten in Tartan nach, und Koon hatte auch prophezeit, daß sich die Diener Oomyds selbst zu zerfleischen beginnen würden, noch bevor die Hauptmacht der Fremden erschien.
Denn nur Oomyd habe sie zusammengehalten. Es gab, auch das wußte Koon zu berichten, einmal eine finstere Zeit, in der das Böse das Eiland regierte, als jeder des anderen Feind war.
Tartan verstand das nicht. Hieß es denn nicht, Oomyd sei von Anbeginn der Zeit an gewesen?
Er zischte einen Fluch und betrat ein Gemach im Vorbau des Tempels des Vierten Lichtes. Die Holztür stand weit offen. Sie war aus den Planken eines vor langer Zeit auf dem Eiland gestrandeten Luftschiffes gezimmert. Tartan schauderte zusammen, als er sich wieder klarmachte, daß Oomyds Diener nie zuvor in sein Reich eingedrungen waren. Makbor überschritt die Schwelle erst gar nicht.
Das Schweigen und die Stille waren kaum mehr zu ertragen. Auch daß Tartan sich klarmachte, daß jetzt an vielen anderen Stellen der Tempelanlage andere Diener nach einem Lebenszeichen von Oomyd suchten, vermochte die Leere nicht aufzufüllen, die in ihm wohnte, seitdem Oomyd verstummt war.
Wie lange war es jetzt her, daß das weiße Licht über den Tempeln erloschen war?
Lernt zu kämpfen, solange noch Zeit ist!
Kämpfen wozu, wenn alles bereits sinnlos geworden war? Tartan verachtete Koon, und er erschrak vor den Gefühlen, die ganz plötzlich in ihm waren. War Koon nicht sein Bruder wie alle anderen auch?
Er verachtete ihn, und je länger er an ihn dachte, desto mehr wuchs die Abneigung, wurde zu Zorn, wurde zu Haß.
… werden die Diener Oomyds sich selbst zu zerfleischen beginnen!
Tartan schrie auf und drängte die Gedanken weit zurück. Er ging geradewegs auf die gegenüberliegende Wand zu, blieb für einen Moment stehen und streckte alle vier Hände nach der Mauer aus, nachdem er die Klinge fortgelegt hatte.
Er zögerte wieder, sah seine kräftigen Arme und die Fäuste, die einen jeden Gegner aus Fleisch und Blut ohne große Mühe zu töten vermocht hätten. Er blickte an sich herab. Die Arme wuchsen aus mächtigen Schultern hervor, unter denen der Körper nur aus Muskeln und Haut zu bestehen schien. In Hüfthöhe, über den beiden Säulenbeinen, waren insgesamt neun lange, schlangengleiche Fangarme um den Rumpf gewickelt. An ihren Enden saßen messerscharfe Scheren.
Dieser zehn Fuß hohe Körper – war er einem Wesen gegeben, das von seinen natürlichen Waffen nie Gebrauch machen sollte? Und sein Schädel im Spiegelbild der Wasserquelle, ein kantiger Kopf mit zwei schmalen Augen, den Nasenöffnungen und dem Raubtiergebiß – war dies das Antlitz eines Geschöpfes, das nie in seinem Leben hatte zu kämpfen brauchen?
Hilf mir! schrie es in Tartan. Oomyd, steh mir bei, bevor ich den Verstand verliere!
Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger und drückte sie gegen die Wand. Sie waren nun fast
Weitere Kostenlose Bücher