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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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der Fliegenden Gemüsehallen, bis in ihren Scheuern, das heißt unter ihren roten Pilzschirmen, alles in sicherer Hut verstaut liegt.
    Eine dieser unbedenklichen Damen war es nun, die ihren »Assistenten« nicht nur durch großzügige Bezahlung überraschte, sondern auch durch ein unvermutetes Geschenk – vor dem er sich aber scheu zurückzog. – So fiel das Geschenk (ein temperamentvoller Knabe mit hoher Stimme) alsbald an die Spenderin zurück. Sie war nicht mehr ganz jung. und so äußerte sich ihr Mutterinstinkt mehr in mürrischer Pflichterfüllung als in übermäßigem Enthusiasmus. Zur Beaufsichtigung gab sie das Kind auch gern weiter, etwa wenn sie einen Köhm zu genehmigen oder einen anderen wichtigen Gang zu tun hatte – und so machte Sylvester schon in zartester Jugend die Runde unter den sämtlichen Pilzschirmen des Hopfenmarktes und tat Einblick in diesen Winkel der Menschheit – eine Tatsache, die ihn dem Leben gegenüber frühzeitig stählte. Später trieb er sich auch oft auf dem Bahnhof umher und entwickelte eine große Fertigkeit in kleinen Diebstählen. Die Vorsehung, die im Regenhimmel Hamburgs lauerte, schien ihn als Bagatelle hinzunehmen, bei der ein Einschreiten sich kaum verlohne – jedenfalls rutschte er der Polizei gewöhnlich durch die Finger. Selbst im Freihafen war er manchmal zugegen wie ein Mäuslein im Speicher; dort gelang es ihm jedoch selten, mehr zu erwischen als etwa ein Paket amerikanischer Zigaretten, deren Anpreisung: »
You run a Mile for a ›Camel‹
« wahr wurde insofern, als Sylvester mit der Beute mindestens eine Meile zu rennen hatte.
    Schon des Säuglings Nüstern hatten einen ganz bestimmten Duft empfunden: an den Apfelsinen. Seine kleinen Hände hatten nach den goldenen Bällen getappt: sein Geschmack, sein ganzes Wesen war durchzogen und getränkt von dieser benebelnden Süße. Wollte die mürrische Matrone, seine Mutter, ihn ruhig bekommen, so brauchte sie ihm nicht jenes todsichere Schlummertränklein, nämlich einen Kaffeelöffel mit Wandsbeker Kümmel, einzuflößen – (brauchte sich also nicht selbst zu verkürzen); – sie hatte nur nötig, ihn in die Kasematten mitten in die rollenden Berge von Orangen zu legen. Tausende von umgestülpten Kisten spien ihren Segen in die Halle, der eilfertig aufgeschaufelt und gewägt wurde. Aus zerquetschten und zertretenen Früchten, aus gelbem und blutrotem Brei stieg der Süden auf wie ein süßes Gas.
    Die Früchte, glatt und rund, glitten ihm durch die Finger, und seine Spiele mit ihnen waren noch ziellos. Eines Tages – (er mochte sieben Jahre zählen) – geriet er mit einigen anderen Straßenarabern seines Alters nach Stellingen. Dort in der Dressurhalle sah er eine Gruppe von Seehunden Nasenball spielen. Das Schauspiel der schlangenhaft sich windenden Hälse mit den spitzschnauzigen Köpfen, die große bunte Guttaperchabälle mit Nasenstübern steigen ließen – »ha–u, ha–u« dazu kläffend, – die feuchten, klatschenden Schwimmfüße – dieses Schauspiel bannte ihn so, daß er sein scharfgeschnittenes kleines Gesicht zwischen die Stäbe steckte und zur Freude des Publikums mitzubellen begann. Ein großer Seelöwe kletterte jetzt in monströser Weise über eine Pyramidenleiter und balancierte einen Chaplin aus Kapokwerg, und als er wieder auf seiner Trommel saß und schleimig-hohl hustete, schrie Sylvester vor Begeisterung so laut, daß der Dompteur Christian Lohmann ihn in den Käfig einlud und ihm erlaubte, den Seehunden halbe Schellfische zuzuschleudern . . .
    Hier begann der Wendepunkt in seinem Leben. Er begann, es den Seehunden nachzumachen und zu jonglieren. Bald war er auf dem »Meßberg« eine gesuchte Persönlichkeit. Zuerst gelang ihm der Trick mit vier Apfelsinen, die er in allen möglichen Stellungen – liegend, im Hocksitz oder springend – aus der Luft holte. Die Anzahl der goldenen Bälle stieg, und mit der Zeit wurden es acht. Sein Honorar für eine solche Leistung war eine Gemüsemahlzeit oder etliche Groschen. Stets fand sich ein bewunderndes Publikum dafür. Sein Vater versuchte, da er eine Erwerbsquelle in dem Sohn witterte, sich ihm wieder zu nähern, doch die Mutter wahrte wütend ihre Vormundschaft, und sie war es auch, die den ständigen Bitten Sylvesters nachgab und ihn, als er zehn Jahre zählte, in den Zirkus Ortolani führte.
     
    Mr. Tsing, ein Chinese aus Annam, vier Fuß hoch, schleuderte in Gemeinschaft seiner zahlreichen zierlichen Familie, in papageibunten

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