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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Kitteln und unter hohen Vogelschreien, allabendlich Fontänen der unhandlichsten Dinge ins Bogenlicht. Sylvester war derart außer sich vor Anschlußbedürfnis an diese flachgesichtigen Wunderkinder, daß seine Mutter ihn kurz entschlossen zu der Truppe brachte, als diese hinter einem Zelttuch von Miniaturschüsseln tafelte, und es dem Vater und Leiter klarzumachen verstand, daß Sylvester in die Truppe aufgenommen zu werden wünsche. Mr. Tsing lächelte und wand sich vor höflicher Ablehnung, doch die Matrone vom Meßberg riß ihrem Söhnchen kurz entschlossen den Anzug und das Hemd vom Leibe und präsentierte ihn, wie Gott ihn geschaffen: sehnig, feingliedrig und voll verblüffender Gelenkigkeit.
    Die sechs Chinesenkinder mit großen schwarzen Augen saßen einen Augenblick stumm, in Verblüffung versenkt über diesen blonden Körper, der dem ihren ähnlich und doch so fremd schien. Dann zwitscherten sie sehr erregt durcheinander in kakelnden und spektakelnden Silben. Sie sahen sich ähnlich wie Eier, und auch das Geschlecht war bei ihnen verwischt, weil sie die gleichen schwarzen Seidenhosen trugen und die gleichen bestickten Käppchen, unter denen ihre Frisuren verschwanden. So war es nicht ersichtlich, ob Sylvester es dem weiblichen oder dem männlichen Element in der Truppe verdankte, daß Mr. Tsing sich erweichen ließ.
    Er bat ihn heran und betastete seinen Leib wie eine Violine. Besonders interessierten ihn Finger und Zehen. Dann ließ er ihn seinen Apfelsinentrick vorführen; sein Lächeln glitt aus dem der Ablehnung in das der Verwunderung hinüber – viele kleine Schnalzlaute gab er von sich. Sylvester durfte sich ankleiden, und vom nächsten Tage ab war er Schüler Mr. Tsings, und die schwarzbehosten, aalglatten kleinen Satane, in deren Mitte er geriet, machten sich zunächst ihren Spaß daraus, ihn mit kleinen Tücken und Intrigen zu verfolgen. Sie trainierten jeden Vormittag, und nach einigen Monaten war er ihnen auf den Fersen. Unzählige Male verletzte er sich an Tellern, die ihm an den Schädel flogen; an Messern, die er falsch erwischte. Doch seine große Gutmütigkeit und sein Ehrgeiz trugen den Sieg davon.. Sie ärgerten und verwöhnten ihn in einem Atem. Sie streichelten ihn und legten ihm Fallen; – sie stellten ihm kindlich das Bein und gurrten ihm wiederum Dinge ins Ohr – unartige, exotische Dinge, die er nie begriff . . .
    Endlich kam der Abend, da Mr. Tsing ihn offiziell in der Gruppe mit auftreten ließ. Keuchend, beherrscht, äußerst fix und schmal, in schwarzem, blumendurchwirktem Kittel und die blonden Haare unter einem Käppchen versteckt, absolvierte er sein Debut. – Am Schluß der Nummer kam Mr. Tsings Glanzstück: das Boomerang-Spiel.
    Er jonglierte mit zwei abgeplatteten Dolchen, zwei Holztellern und zwei geknickten Keulen. Zunächst stiegen diese Gegenstände organisch auf in engen Kreisen. Dann erweiterte sich ihre Flugbahn zur Ellipse, wie Blätter einer Blume schräg in den Raum hinein magisch sich öffnend und schließend. Die kleine nervöse Hand gab ihnen unerhört präzise Drehungen mit auf den Weg, – inneren Drang, umzuschwenken und zurückzukehren in die zauberhaft lockende Handhöhle – wie Vögel ins Nest. So stand Tsing breitbeinig da mit verzücktem Lächeln; tauchte die Hände in den Raum und vernichtete spöttisch das Naturgesetz. Immer ferner kreiste das Belebte, das von seinem Willen Geladene, um knapp am Boden – wie umgeknickt in der Bahn – zurückzutauchen: in einer zuckenden Sekunde gerettet von zwangsläufigem, atemraubendem Fiasko . . .
    Sylvester wurde mit Leib und Seele ein Stück dieser seltsamen Maschinerie aus vergewaltigten Körpern – tierischen und menschlichen –: des Zirkus. Der Zirkus verschlang ihn und wurde seine Welt – troff auch das Mondsilber auf das gewaltige Zelt herab oder rüttelte daran peitschender Regensturm: – im Innern dieses zigeunernden Gehäuses, dieser aneinandergekuppelten Wagen schwärmte ein toller Rhythmus, wurde Wagnis auf Wagnis gehäuft.
    Der plärrende Tubenschall des Orchesters vernichtete jedes Gefühl für ein Draußen, für eine Welt jenseits der grundlosen Segeltuchflächen. Nur hier innen war das Leben, wütendes, wildes, buntes Leben; – alles jenseits verblaßte. Aus irgendeinem wesenlosen Nebel kroch täglich der Ameisenhaufen, dreitausend Menschen aus Nirgendwo, – füllte schwarz, eine einzige brandende Welle von Klatsch- und Beifallsgetöse, die erhöhten Sitzreihen und wurde

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