Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
plebejisch werdenden Welt war. Unbeobachtet, wie sie sich wähnte, hatte die Gräfin es sich auch zur Gewohnheit gemacht, vor einem barocken Herrn aus Sandstein, der seinen muskelwuchernden Körper in römischer Feldherrntracht auf einem schmalen Sockel durch das Laub hob, stehenzubleiben und den Sockel mit ihrer kleinen gelben Hand zu streicheln. Denn dieser von Kraftüberschuß gekrümmte, von Moos gesprenkelte und von Amselmist gescheckte Herkules trug unter der tobenden Allongeperücke unvergeßliche Züge. Die Gräfin flüsterte: »Viktor!« – und säuberte seine Kriegerwaden bis zum Knie. (Den Rest anempfahl sie dem Gärtner.) Vielleicht kam ihr manch eine Träne ins Auge, während sie diesen zarten Kultus trieb.
Man würde jedoch mit der Meinung fehlgehen, daß sie dieses Erinnerungsopfer immer in gedrückter Stimmung brachte: Im Gegenteil, oft tat sie es mit einer gewissen Schalkhaftigkeit und leistete es wie einen graziösen Tribut, ohne dabei unbedingt zu den Pausbacken, der spitzen Nase und den etwas geistlosen Sandsteinaugen des Verewigten emporzuspähen. Denn es muß verraten werden, daß die Gräfin trotz ihrer Einsamkeit noch Ablenkungen kannte; und schließlich brauchte auch die andächtige Dankbarkeit zu dem charmanten Prinzen Viktor nicht alle Grenzen zu sprengen. – Besonders um Mitte Februar wurde sie flüchtig – denn dann war der Himmel schon blau und atmete weiche Luft über die kahle Welt. – Die Gräfin Ponquille ging an solchen Tagen trotz ihrer vollgerüttelten Sechzig wie ein junges Mädchen die Heckengänge hinab.
Daß sie sich um die Zeit des Karnevals jugendlicher zeigte als sonst, erregte noch nicht so starkes Staunen, da sie, wie man annahm, von verschämten Erinnerungen befallen wurde. Wohl aber gab es einen Punkt, über den sich die Domestiken schon lange den Kopf zerbrachen. Während des Zwölfuhrschlags in der Nacht zum Sonntag Estomihi ging die alte Gräfin in einiger Erregung den Gang des unbewohnten Seitentraktes hinunter und verschwand in einem bestimmten Zimmer, das sie bis Aschermittwoch von innen absperrte.
Tags zuvor hatte Baptiste seinen großen Staubwedel schwingen und das bewußte Gemach reinigen müssen, wie es seit dem Tode des Prinzen seine jährliche Obliegenheit war. Dann hatte er reichlich und trefflich zubereitete Nahrung, Wein und auch ein Dutzend Flaschen Champagner in einem Korb hineingetragen, alles nach Angaben, die sich seinem Hirn längst als Pflicht eingeprägt. Was das Gemach anbetraf, so war es kahl, rund, und hatte schwachgoldgestäubte Zierleisten über den hohen schmalen Fenstern, die von cremefarbenen, etwas brüchigen Seidenvorhängen bedeckt waren. Durch diese Fenster sah man in den Park hinaus. An Möbeln fanden sich lediglich ein zerbrechliches Sofa, eine Couchette, ein Tisch und zwei überzierliche Sessel vor. Die Seitenwände waren weiß und festlich, die Decke von einem heiteren, leuchtenden Fresko in der Art Tiepolos geschmückt. Es zeigte, inmitten einer mythologischen Szenerie, eine Anzahl bräunlicher Faune, mit dem Erobern zeternder nackter Nymphen frohgemut beschäftigt. – Zwischen den Fenstern gab es Spiegel.
Ein Umstand war rätselhaft, ja spukhaft: unter dem mittelsten Fenster stand eine vergoldete Holztruhe in Form eines Sarges . Dieser Gegenstand bestärkte die Domestiken ganz besonders in ihrer schreckhaften Neugier und hielt sie zugleich am nachdrücklichsten von dem Zimmer fern. Als nämlich Baptiste, während er den Jahresstaub aufrührte, den Inhalt besagter Truhe zu erforschen gedachte, drang ein ächzender Ton aus ihr hervor, wie wenn jemand herzhaft gähnt; und etwas später, als er sich noch blaß vor Schreck wieder näherzustehlen wagte, wollte er ein Rascheln gehört haben und eine unmutig murmelnde Stimme: »
Mon Dieu,
– und es ist doch noch gar nicht an der Zeit! «
Mit der Truhe brachte man den Aufenthalt der Gräfin in Zusammenhang. Damit traf man wohl das Rechte, denn Gismonde, die Zofe, hatte einmal den Mut besessen zu lauschen, und von innen einen Dialog gehört (von einem leis perlenden melodischen Gelächter unterbrochen, wie man es der Alten nie zugetraut hätte) –, einen Dialog, der sich verstohlen zischelnd und darum leider unverständlich durch mehrere Stunden hinzog. Daß die Empfänglichkeit für Galanterie in der Greisin nicht abgestorben war, bewies diese periodische Vergnüglichkeit zur Genüge; welcher Art aber dieser Verehrer sei und auf welchem Weg sie ihm jedesmal aus der Truhe
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