Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
einen Hebel, ein starkes Stück Metall, um dieses Gitter auseinanderzubiegen und sich Durchlaß zu erzwingen.
Er fand nichts, was ihm hätte dienlich sein können. Doch war es auf einmal, als verleihe die Sehnsucht und der sich aufbäumende Wille zum Leben ihm ungeheure Kräfte. Er ergriff mit den Händen zwei der Gitterstäbe. Seine Muskeln spannten sich wieder wie Stahl, wie unter der Wirkung des grünen Giftes, mit dem der Unhold ihn verseucht. Die Stäbe wichen, und er preßte sich hindurch.
Er sprang auf einen freien Platz. Er sah auf einmal Baumwipfel, die sich schüttelten, und Dunkel und Hell wechselten langsamer, als erlahme die Feder eines magischen Spielwerks.
Da hörte er ein leises Rascheln, und drei schwarze Silhouetten, die der Hunde, standen unfern auf dem Pfad.
Verzweiflung gab seinen Schenkeln unerhörte Schnellkraft. Mit drei Sätzen sprang er auf das Parkgitter zu und zog sich blitzschnell daran in die Höhe. Ein Schnappen verscholl hinter ihm in die Tiefe.
Plötzlich hörte er eine ganz leichte, hohe Stimme unter sich.
»Vergiß nicht, wohin du gelangen wirst, wenn du dieses Gitter übersteigst.«
»Wohin? –« rief Harald heiser zurück. »In meine Welt zurück, in meine eigene, menschenwürdige Welt!!«
Ein bedauernd gurrendes Gelächter ward wach.
»In deine Welt? Wen glaubst du dort zu finden?«
»Die mir früher teuer waren!«
Das kleine Gesicht seiner Mutter stahl sich zitternd vor seinem inneren Blick vorbei; eine Geste seines Vaters, ein vertrauter Tisch und andere Gesichter, die er kannte, die ihn verstanden.
»Deine Eltern . . .?« sang unten die Stimme weiter – »du findest sie nicht mehr. Seit du hier bist, bist du selbst so alt geworden, wie sie waren . . .«
»Du lügst!« stammelte Harald herab. Und doch fühlte er, wie seine Hände, an die obersten Spitzen des Gitters geklammert, eiskalt wurden und erlahmten.
»Warum soll ich lügen?« erwiderte Dr. Sze. »Ich gebe dich frei!«
»Du gibst mich frei?«
Eine Ohnmacht überkam den Knaben. Seine Glieder lösten sich, er fiel herab. Die weite, kühle Seide der Ärmel des Untenstehenden schloß sich um seine Brust.
Harald, sein Bewußtsein bald wiedererlangend, spürte mit einem Gefühl größter Leere, in das er sich willenlos gleiten ließ: »Er hat mich nicht betrogen.«
Der Chinese brachte ihn in das Spiegelzimmer zurück und bettete ihn sorgsam auf herzugeschleppte Kissen. Dann betrachtete er ihn, und der Ausdruck jenes Übermaßes an Qual stahl sich wieder über sein flaches Gesicht. Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit ließ er seine Hände aus den Ärmeln emporsteigen. Dann schritt er wieder heraus, schloß die Tür und näherte sich dem Pergamente, das er stehend und nachdenklich betrachtete.
Kein Sinn blitzte mehr zwischen diesen eckigen Zeichen auf.
Nur das eine wußte er jetzt: »Es gibt keinen Ausweg als den einen « – und sein Fuß trat verächtlich auf eine Gruppe von Zeichen, die ihm jene besondere, betäubende Erkenntnis vermittelt.
»Man kann Ihn nicht auslöschen, es sei denn, daß man Ihm sein eigenes Gewicht in Blut gebe.«
»Wohlan!« schrie er auf einmal, und es klang wie das Kreischen eines ungeschlachten Geiers durch die Totenstille:
»Wohlan! So soll dieser den Anfang machen! . . . denn eine Heilung gibt es nicht mehr.«
Die üble Zauberwirkung dort im Innenhofe war wieder geschäftig. Sze fühlte es in allen Gliedern. Er schlich sich den Gang hinunter und öffnete eine Ritze der Tür des Hofes. Jemand, fühlte er, stand innen hinter ihr und riß sie auf, mit elastischer und unnachgiebiger Gewalt. Wenn er sich hereinwagte, so würde dies kreisende magnetische Feld auch ihn in seinen Strudel ziehen! – aber er durfte nicht der erste sein, nicht er!! – denn er hatte zu tun, er hatte das Werk zu vollenden!
Mit äußerster Kraft schloß er die Türe wieder, die ihn hineinzuzerren drohte; dann schritt er zurück nach dem Zimmer, wo der Knabe lag. Er öffnete es und blickte hinein.
Dort lag die junge Gestalt wieder in Ohnmacht versenkt, dort lag diese gottgewollte Form, die zertrümmert werden mußte. Das Gesetz des Zazel wollte es so.
Und dieses Scheinleben dort eines so alten Wesens in einer jungen Form, die es Lügen strafte, hatte keinen Sinn mehr.
Er ließ die Tür offenstehen, warf noch einen sinnenden Blick auf den unbeweglichen Körper und wartete draußen.
Das Haus erzitterte von dumpfen Klängen, die er mit innersten Fibern spürte. »Wage ich es?« dachte
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