Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
außen und innen wie bei mir. Ich hatte bisher einen Kult mit dieser erloschenen Figur getrieben, denn auf ihr war meine Existenz gegründet. Als nun Ursula kündigte, fiel mir selbst auf, wie leichten Herzens ich »dringender Familien-Angelegenheiten halber« den Urlaub vom Chef ertrotzte, wiewohl damals eine zugespitzte Krise den Geldmarkt bedrohte und ich noch nie so nötig gewesen war wie gerade jetzt. Ich fühlte, daß die Krise, die mich selbst betraf, dringender rief und in jedem Sinne unvergleichlich wichtiger war . . . Ich beschloß, mich ganz mit aller Kraft der kleinen Jungfer zu widmen. Ich mußte ihr viel vom Leibe halten . . .
Ursula hatte mir noch, während sie kündigte, folgendes erzählt. Sie habe im Nebenzimmer geschlafen. Da sei sie plötzlich von einem Geräusch geweckt worden, als würden eine Anzahl Türen von weiter Ferne her und sich rapid nähernd aufgerissen und zugeschlagen. Plötzlich seien es die Türen im Hause selber gewesen, die gekracht hätten. Schlafblind sei sie aufgesprungen, um die anscheinend nachtwandelnde Marlies einzufangen – ein paar Schritte hätten sie ins Schlafzimmer gebracht – da aber sei alles friedlich und still gewesen. Mich selbst habe sie schnarchen hören. Marlies habe geschlafen wie eine »Tote«. In der Küche habe der dort eingesperrte Kater leise gesungen mit tiefer Kehlstimme. Alle Türen seien verschlossen gewesen wie immer. – – Wo aber komme es her, frage sie allen Ernstes, daß sie mit so fürchterlichem Herzklopfen aufgeschreckt sei? Daß die Rißwunden an der Schulter deutlich geschmerzt und eine davon sogar ohne ersichtlichen Grund wieder geblutet habe? – Nein, hier bleibe sie nicht; ich solle es ihr nicht verübeln.
»Mein Gott! Ein Scheit im Ofen hat gekracht! Das klingt zuweilen wie ein Schuß . . .«
»Ich weiß nicht, Herr. – Sie können recht haben. Aber am ersten November muß ich Sie verlassen.«
Bis dahin war es noch eine Woche. Marlies weinte viel und führte seltsame Reden. Ich saß oft bis Mitternacht an ihrem Bett. Als ich ihr meinen Entschluß ankündigte, nicht von ihrer Seite weichen zu wollen, bis sie gesund sei, war sie tief beruhigt. »Du hast keine Ahnung, Mark,« fügte sie bei, »wie lebhaft sie jetzt sind, wie sie sich Mühe geben! Aber du bist ihnen gewachsen.«
»Wem, mein Kind?« fragte ich.
»Nun – den kleinen Grauen doch!« flüsterte sie eindringlich.«
»Aha«, sagte ich. »Du meinst die Ofenzwerge! « (Das waren Geschöpfe. die wir gemeinsam ins Leben gerufen, als Marlies acht Jahre alt war; gute Gestalten, vertrauenerweckend, wenn auch etwas problematisch. Sie waren durchaus friedlich und nur auf sanfte Neckerei erpicht.)
»Natürlich! Die Ofenzwerge!« sagte sie befreit und glücklich. »Aber Mark – sie sind nicht mehr ganz so nett wie früher.«
»Marlies,« redete ich auf sie ein und trug sie dabei im Zimmer umher – »hier sind sie nicht und dort sind sie nicht; sie haben überhaupt wenig Platz. Sie machen vielleicht Radau und zanken sich, wenn sie sich unbelauscht vermuten. Aber für dich haben sie gar kein Interesse mehr – du bist ihnen zu groß geworden. Sieh dich mal selbst an, wie lang du geworden bist. Kannst du deine eigenen Füße noch sehen? Deshalb spielen sie auch nicht mit dir, sondern bilden sich ein, sie sind witzig, wenn sie dich erschrecken. Wenn du ihnen immer zuguckst, schweigen sie beschämt. Sie sind ja viel zu dumm, um was anzurichten; du kennst sie ja. Laß dich von den Kleinen ja nicht ins Bockshorn jagen.«
»Kann man sie nicht versöhnen? Ich fühle, sie wollen was von mir. Auch wenn ich sie nicht belausche.«
Ihr Fieber war hoch. Ich wiegte sie hin und her. Ihre hektischen Augen standen wie Sterne im blassen Gesicht und durchtasteten das ganze Zimmer. Die Lampe brodelte leise; das Öl sang. Die Rhythmen einer andrängenden monotonen Melodie schwangen dicht unter der hohen verräucherten Decke. Irgend etwas an ihren Worten hatte mir Vorstellungen erweckt, die ich hier lieber verschweige. Delirium, wie? Na ja . . . Waren das auch die – »Ofenzwerge« gewesen, die Ursula so roh aus dem Schlaf gezerrt?
Eins war nötig: der Geist des Kindes mußte konzentriert werden auf etwas Festes, das ihm stets neue gesunde Nahrung gab. Bücher konnte und durfte sie noch nicht lesen. So mußte man etwas herschaffen, was ihre Phantasie anregte und zugleich ihren Spieltrieb. In der Woche, die mir noch blieb, durchirrte ich die Stadt und grübelte dabei über einen
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