Die Magistra
Stadthauptmanns? Das Gepolter konnte doch niemand überhört haben. Es sei denn … Bernardi verbot sich, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Hier in der Kammer war er wenigstens vor Angriffen sicher. Wer auch immer gegen ihn intrigierte, hatte nicht mehr zu tun, als bis zur Rückkehr des Kurfürsten und der Stadtoberen zu warten. Welcher Mörder war schon so töricht, den Hauptverdächtigen seiner eigenen Tat aus dem Weg zu räumen?
Bernardi hielt es nicht länger auf seinem Heusack. Er erhob sich leise, durchquerte die Kammer und löschte das Licht seiner Lampe auf dem kleinen Tisch. Dann drückte er sein Ohr gegen das Holz der schweren Eichentür. Bald glaubte er, ein Raunen wahrzunehmen, auf das ein heiseres Zischen folgte. Vorsichtig legte er seine Hand auf die Klinke. Sie gab nach, Stück um Stück. Die Anspannung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Die Tür war unverschlossen. Das Knirschen, das er gehört hatte, war das Geräusch eines Schlüssels gewesen.
Als Bernardi den Kopf durch den Türspalt steckte, fiel sein Blick sogleich auf die Gestalt des Wachsoldaten. Der Mann saß nicht auf seiner Bank rechts neben dem Türpfosten, sondern lag reglos in der Mitte des Korridors, beide Arme weit vom Körper abgewinkelt. Seine linke Hand war blutüberströmt und umklammerte den Griff einer wuchtigen Zinnkanne, aus der noch immer einige dünne Fäden dunkelroten Weins über die Dielen rannen, ehe sie zwischen den Ritzen der Bretter versickerten. Bernardi sah sich nach allen Seiten um, dann ging er neben dem Wachmann in die Hocke, um nach seinem Puls zu suchen. Der Soldat lebte noch. Sein Atem ging regelmäßig und roch schwach nach Wein. Als Bernardi an der verbeulten Kanne roch, stieg ihm ein säuerlicher Geruch in die Nase. Gift, das für ihn bestimmt war? Wer um alles in der Welt mochte den Wachposten außer Gefecht gesetzt haben, nur um seine Tür zu öffnen? Philippa traute er eine solche Tat ohne weiteres zu, doch sie befand sich mit ihrer Tante eine Tagesreise von Wittenberg entfernt. Und Roswitha? Die alte Amme war auf Philippas Wunsch im Schwarzen Kloster geblieben, um die Tante der Herrin zu pflegen, doch sie wäre zu solch einer Tat nicht fähig gewesen.
Der Magister schlich den düsteren Korridor entlang. Feine Geräusche von rieselndem Kalk begleiteten seine Schritte, hin und wieder kreuzte eine Ratte seinen Weg. Angespannt hielt er seine Kerze höher. Katharina Luther beschäftigte zwar ganze Legionen von Handwerkern, um das alte Gemäuer zu erhalten, doch in diesen Trakt verirrte sich offensichtlich nur selten eine Menschenseele. Endlich erreichte Bernardi die Wendeltreppe, die sich durch die bläuliche Finsternis schlängelte. Ein leiser Fluch entwich seinen Lippen, als er gleich auf der ersten Stufe über einen in Tücher gehüllten, harten Gegenstand stolperte. Im letzten Augenblick schaffte er es, sich am Treppengeländer festzuhalten. Allem Anschein nach legte es jemand darauf an, daß er sich auf seiner Flucht aus dem Lutherhaus den Hals brach.
Argwöhnisch in die Dunkelheit spähend setzte er seinen Weg fort, bis er die Tür zum Hof erreichte. Alles blieb still. Die Fenster auf der anderen Seite des ehemaligen Klostergebäudes, wo die Scholaren der Universität und andere Kostgänger ihre Quartiere hatten, starrten ihm wie die leeren Augenhöhlen eines nach Aas gierenden Vogels entgegen. Wieder zögerte er. Es war eine Torheit, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Griff man ihn bei einem Fluchtversuch auf, würde nicht einmal Katharina Luther länger an seine Unschuld glauben. Außerdem würde er Philippa möglicherweise nie wiedersehen, ein Gedanke, der schwerlich zu ertragen war, wie er sich eingestehen mußte. Andererseits lag offen auf der Hand, daß der Stadthauptmann und Graf Wolfger ihren Stab längst über ihn gebrochen hatten. Sie hielten ihn, den konvertierten Juden, für einen gedungenen Mörder, der für die Kaiserlichen arbeitete, und würden nicht ruhen, bis er das Schafott bestiegen hatte.
Bernardi drückte sich an die Hauswand. Er verwünschte seinen eigenen Schatten, der sich im Mondlicht auf der weißen Mauer ihm gegenüber gespenstisch abzeichnete. Das Tor zur Straße war längst fest verschlossen, ebenso die kleinere Pforte. Aber wenn er das Badehaus umrundete, war es ihm vielleicht möglich, in den Kräutergarten und von dort durch eine der vielen Breschen in der Mauer zu entkommen. Er setzte sich in Bewegung, geduckt, den Blick
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