Die Magistra
kannte keine verbindlichen Dogmen, kein geistiges Übergewicht einer wahren Lehre, welche andere Erkenntnisse, und somit die harmonische Entfaltung der Seele, unterdrückte. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß auch unsere Kirche dem Menschen Willensfreiheit zugesteht. Das Erdenleben schafft Engel und Teufel gleichermaßen!«
Ein heftiges Getöse ließ Philippa verstummen. Im Hof erscholl Pferdegetrampel, dem ein energisches Ziehen am Glockenstrang sowie aufgebrachte Stimmen folgten. Philippa ging zum Fenster und öffnete einen Flügel. Ihr schwante Böses. Auf dem Weg, der zu den Pferdeställen führte, lieferten sich Graf Wolfger, Valentin Schuhbrügg und Magdalena, die Verwalterin des kleinen Freihofes, ein erbittertes Wortgefecht. Die Freihöferin trug in jeder Hand eine Milchkanne. Während sie redete, schwappte die weiße Flüssigkeit über den Rand und benetzte den Saum ihres gestreiften Winterkleides. Wolfger trug einen Waffenrock aus braunem Wollstoff. Mit einer herrischen Bewegung schwang er sich aus dem Sattel und drückte dem verunsicherten Knecht mit drohenden Blicken die Zügel seines Rappen in die Hand. Daraufhin stapfte er, ohne Magdalena und Valentin eines weiteren Blickes zu würdigen, auf den Universitätstrakt des Anwesens zu.
Entsetzt wich Philippa vom Fenster zurück. Es war nicht schwer zu erraten, hinter wem der Eidgraf her war. Die vor Zorn glänzenden Augen des Mannes ließen den Schluß zu, daß er soeben von ihrer Fahrt über Land und Bernardis Flucht aus dem Schwarzen Kloster erfahren hatte. Sie stürzte zum Katheder und raffte in panischer Hast ihre Bücher und die Schreibmappe zusammen, wobei die Hälfte der gelblichen Bögen zu Boden fiel. Philippa ließ die Schriften liegen. Sie mußte fort von hier. Auf der Stelle. Nur in Katharinas Gemächern war sie sicher. Wolfger würde es nicht wagen, sie in den Räumen ihrer Tante anzugreifen. Doch was geschah mit ihren Schülerinnen? Sie trug doch die Verantwortung für die Schulstube. Entgeistert beobachteten die Kinder, wie Philippa die Tür öffnete und vorsichtig auf den Korridor spähte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Barbara hielt es nicht länger auf ihrer Bank.
»Laßt die Rechenbretter liegen und stellt Euch in zwei Reihen auf!« befahl Philippa mit fester Stimme. »Barbara, du führst die Mädchen ohne Umschweife den Gang hinunter zu den Räumen der Universität. Dort bleibt ihr bei Meister Hans und seinen Scholaren, bis ich euch abhole! Hast du verstanden?«
Das Mädchen nickte eifrig.
Philippa sah Barbara und den anderen Kindern nach, bis das letzte im Zwielicht des Korridors verschwunden war. Dann lief sie in die Schulstube zurück, löschte mit einem Krug Wasser das Feuer im Ofen und machte sich schließlich auf den Weg zur Treppe. Schritte nahten. Einen Herzschlag lang überlegte Philippa, ob sie ihren Schülerinnen in die Hörsäle der Studenten folgen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie durfte die Kinder nicht in ihre Auseinandersetzung mit dem hessischen Diplomaten verwickeln. Eilig lief sie ein Stück zurück und rüttelte an der Pforte, die den Universitätstrakt mit den Wohngemächern der Luthers verband und zumeist bis spät in die Nacht geöffnet blieb. Doch diesmal hatte sie kein Glück. Die Durchgangstür war verriegelt.
»Gebt Euch keine Mühe, Jungfer von Bora«, hörte sie plötzlich die schneidende Stimme des Eidgrafen. Breitbeinig verstellte er ihr den Weg, die Hände in die Hüften gestemmt. Sein eleganter Rock war schmutzig und zerrissen, der Lederbesatz voller Schweißflecken. »Ihr hattet doch nicht vor, meinem Besuch auszuweichen, oder?« rief er voller Zorn. Philippas Schultern strafften sich abwehrend, doch sie konnte nicht verhindern, daß der Eidgraf sie am Arm packte und hinter sich her zerrte.
»Was wollt Ihr schon wieder von mir, Wolfger?« schrie sie. »Ihr tut mir weh, verdammt. Laßt mich auf der Stelle los, sonst werde ich meine Tante benachrichtigen!«
Wolfger entwich ein höhnisches Schnauben. »Eure verehrte Tante wird froh sein, wenn Seine Durchlaucht, der Kurfürst, nicht ihren Kopf für den Eures sauberen Liebhabers fordern wird.«
Ohne den harten Griff um ihren Oberarm zu lockern, zwang er sie die Treppen hinunter. Er störte sich nicht daran, daß sie auf den schmalen Steinkanten mehrmals ausglitt und gegen die Wand prallte. Im Hof angekommen, wartete neben Wolfgers schweißgebadetem Rappen ein weiteres gesatteltes Pferd, das anscheinend aus den Stallungen der
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