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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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du sein Urteil noch einmal auf Latein oder Griechisch hören?«
    »Nimm sofort deine Hände von mir!« Philippa riß sich von ihrem Bruder los.
    Sebastian war kräftig, seine Arme durch die ritterliche Ausbildung, die er am Hof Herzog Georgs des Bärtigen genossen hatte, hart wie ein Amboß. Mit einer einzigen Bewegung zwang er Philippa in die Knie und drückte gleichzeitig ihren Kopf in den Nacken. Dann schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Erschrocken trat der Medicus einen Schritt zurück und räusperte sich. Mehr Hilfe durfte das widerspenstige Frauenzimmer von ihm nicht erwarten. Aber Sebastian schien die Anwesenheit des Arztes ohnehin gar nicht mehr wahrzunehmen.
    »Du tust mir … weh«, preßte Philippa hervor und biß sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerzen loszuschreien. Als Sebastian sie losließ, stürzte sie unsanft auf die Dielenbretter. Ihr Gesicht brannte wie Feuer. Mühsam versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen, was nicht einfach war, da der Saum ihres schwarzen Magistergewandes sich wie ein Fallstrick um ihre Knöchel gewunden hatte. Weder Sebastian noch der Arzt hielten es indes für nötig, ihr die Hand zu reichen, und erst als das Pochen in ihren Schläfen nachgelassen hatte, wurde ihr bewußt, daß die beiden Männer längst über die Stiege verschwunden waren. Man hatte sie allein vor der Tür ihres sterbenden Vaters zurückgelassen.
    Vorsichtig plagte sie sich auf und lauschte, ob nicht doch von irgendwoher Stiefeltritte zu hören waren. Dann eilte sie, so rasch sie ihre wackeligen Beine zu tragen vermochten, den Gang entlang zur Leinenkammer. Dort zog sie ein Stück festen Stoff aus einem der Ballen, die auf Regalen oder in Truhen aufbewahrt wurden, und wickelte es sich wie eine Sarazenin um den Kopf. Wenn der Schwachkopf von Medicus es gewagt hatte, die Kammer ihres Vaters zu betreten und ihn zu untersuchen, so würde sie sich gewiß nicht scheuen, es ihm gleichzutun.
    Als Philippa ihre Hand auf die Klinke legte, hämmerte ihr Herz so stark gegen die Rippen, daß sie fürchtete, es müsse an ihnen zerbersten. Noch einmal drehte sie sich um. Aus der Halle drang undeutliches Gemurmel an ihr Ohr. Vermutlich machte Sebastian den Dienern die Anweisungen des Medicus klar. Ihr blieben nur wenige Augenblicke, die letzten, die sie vermutlich mit ihrem Vater auf Erden würde teilen können. Entschlossen zwängte sie sich durch den Türspalt.
    In der kleinen Kammer, die ihre Eltern einst gemeinsam bewohnt hatten, empfing sie Zwielicht und ein betäubender Geruch nach verbranntem Wacholder. Aber da war noch etwas anderes: ein Geruch, der stärker war als der herbe Kräuterduft. Philippa zwang sich, ihn zu ignorieren, und preßte sich das Stück Stoff vor den Mund. Nikolaus von Bora lag vollständig bekleidet auf dem Kastenbett und hatte die Augen geschlossen. Nicht einmal seine schweren Stiefel hatte man ihm ausgezogen. Der blaue Samtvorhang mit der zierlichen Goldbordüre, die ihre Mutter gleich nach der Hochzeit hatte anbringen lassen, war zurückgezogen und baumelte wie das Segel eines dem Untergang geweihten Schiffes zwischen den hohen Pfosten. Philippa fragte sich, ob sie den Vater wecken sollte oder ob es nicht barmherziger war, ihn seinen Träumen zu überlassen. Immerhin atmete er regelmäßig, wenn auch schwach.
    Auf Zehenspitzen ging sie zu einem der beiden kleinen Buntglasfenster hinüber und öffnete es, um den drückenden Geruch aus der Kammer zu vertreiben. Dann drehte sie sich wieder um. Ihr Blick fiel auf den wie ein Eichenblatt geformten Leseständer, auf welchem die aufgeschlagene Bibel ihres Vaters lag. Aus ihr hatte er fast jeden Abend vorgelesen. Behutsam fuhr Philippa die geschwungenen Initialen mit ihrem Finger nach. Die Bibel stammte aus einer Druckerwerkstatt in Wittenberg, und ihr Onkel, Tante Katharinas Gemahl, hatte sie aus dem griechischen Urtext in die deutsche Sprache übersetzt. Philippa erinnerte sich nicht mehr, wann genau diese Schrift nach Lippendorf gelangt war, aber sie vermutete, daß ihre Tante sie zum Trost für ihren Bruder und dessen Kinder mitgebracht hatte, als sie nach Lippendorf gereist war, um ihnen ihr Beileid zum Tod der Mutter auszusprechen. Danach hatte Philippa nie wieder etwas von den Luthers gehört, und das Bild der schwarzgekleideten Edeldame, die sie traurig lächelnd auf dem Arm über die Wiese zum Erbbegräbnis der von Boras getragen hatte, war in ihrer Erinnerung zu einem undeutlichen Scheinen verblaßt.
    »Was, in Gottes

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