Die Magistra
widerstreitender Gefühle. Was geschah, wenn Sebastian den Letzten Willen ihres Vaters nicht anerkannte? Im Grunde hatten sie einander immer geliebt und geachtet, wie es unter Geschwistern sein sollte. Ihre Studien der humanistischen Schriften, der lateinischen und griechischen Sprache sowie der heidnischen Philosophen waren Sebastian zwar auf die Nerven gegangen, doch bevor Abekke in sein Leben getreten war, hatte er sich über den Eifer seiner Schwester bestenfalls lustig gemacht. Was aber sollte aus ihr werden, falls Sebastian und Abekke sie tatsächlich des Gutes verwiesen?
Obwohl Philippa ihrem Vater den Rücken zuwandte, spürte sie deutlich, daß er jede ihrer Bewegungen verfolgte. Sein fiebriger Blick schien selbst in ihre Gedanken einzudringen, denn unvermittelt sagte er: »Ich möchte dich um etwas bitten, Tochter, und du sollst mir auf deinen Eid versprechen, daß du mir diese Bitte nicht abschlägst.«
»Ich verspreche es«, antwortete Philippa und zuckte müde mit den Schultern. »Was es auch sein mag.«
»Falls du … Lippendorf jemals verlassen mußt, geh zu meiner Schwester, deiner Tante Katharina, nach Wittenberg. Vor langer Zeit hat auch sie mir ein Versprechen gegeben. Gleich nachdem meine arme Francesca …«
»Ins Haus der Lutherin?« flüsterte Philippa erstaunt. »Du unterstellst mich dem Schutz einer entlaufenen Nonne, die einen … einen Rebellen gegen Kaiser und Papst geheiratet hat?« Mühsam unterdrückte sie den Wunsch, über diesem unseligen Ansinnen ein Kreuz zu schlagen. Auch wenn ihr Vater sich und sein Gut den 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg verteidigten Lehren seines Schwagers unterworfen und die Meßfeiern, Sakramente und Prozessionen in Lippendorf abgeschafft hatte, fühlte sie selber sich insgeheim noch immer ihrem alten Glauben verbunden. Vielleicht, weil dieser Glaube zu den wenigen Dingen gehörte, an die sie sich aus der Zeit vor dem Tod ihrer Mutter erinnern konnte. Ihr Interesse an der versunkenen Welt der gelehrsamen Griechen und der tapferen Römer entsprang letztendlich dem verzweifelten Wunsch eines einsamen Kindes, sich einen Schein jener farbenfrohen Welt zurückzuholen, in welcher das Bild ihrer Mutter, der schönen und heiteren Francesca, noch nicht verblaßt war.
»Es ist schon recht so, wie alles gekommen ist, Philippa«, flüsterte Nikolaus milde. »Glaub mir.« Es gelang ihm aus eigner Kraft, sich ein wenig aufzurichten und den Kopf an das vorstehende Holz des Bettkastens zu lehnen. »Die Zeit war reif, um die unheilvolle Macht des Papstes und seiner feisten Bischöfe zu brechen. Wir müssen zu einem einfachen Evangelium zurückkehren, einer Lehre, die von jedermann verstanden wird. Selbst von Bauern und Fischern, wie der heilige Petrus einer war. Sola gratia et sola fide, verstehst du? Allein der Glaube. Oder hältst du es für richtig, mit welchem Gehabe die Mönche durch unser Land gezogen sind und Handel mit dem Seelenheil der Menschen getrieben haben? Eines Tages wird auch Herzog Georg einsehen, daß Goldmünzen im Fegefeuer nicht heilbleiben. Dann kann er uns das Abendmahl in beiderlei Gestalt nicht länger verweigern. Was aber deine Tante betrifft, so kenne ich kaum eine Frau, die geduldiger und gerechter wäre. Sie hat deine Mutter sehr gemocht und wird dich gewiß gerne in ihrem Haus aufnehmen.«
»Warum hast du niemals mit mir und Sebastian über unsere Mutter gesprochen?« entgegnete Philippa traurig. »Ich weiß so wenig über sie. Nur, daß sie aus Italien stammte und früh gestorben ist.«
»Es gibt gewisse Dinge, die läßt man besser ruhen, Philippa«, antwortete Nikolaus, ohne seine Tochter anzusehen.
»Mutters Tod hat aber mit der neuen Lehre zu tun, nicht wahr? Seit dem ersten Auftreten des streitbaren Mönches hast du jedem von uns verboten, die Kapelle im Dorf auch nur zu betreten. Kannst du mir nicht einmal jetzt sagen, was damals wirklich geschah?«
Philippa stockte plötzlich, weil sie ein Gefühl des Unbehagens überfiel. Auf dem Korridor waren Schritte zu hören, Stiefelschritte und das schleifende Geräusch von Kettenhemden. Wenn nun Sebastian zurückkehrte und den schweren Waffenschrank vor die Tür rückte, war sie verloren. Angsterfüllt starrte sie auf den Riegel, den sie nicht zurückgeschoben hatte. Sie saß in der Falle.
Doch die Schritte entfernten sich, ohne vor der Kammer des Gutsherrn innezuhalten. Philippa atmete tief durch. Zwischen ihren Augenbrauen standen Schweißperlen.
»Du mußt mich verlassen,
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