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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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Tochter«, sagte Nikolaus schwach. »Aber zuvor will ich dir noch etwas anvertrauen. In der Truhe deiner Mutter findest du … eine Figur …«
    Philippa kniete sich noch einmal vor die blanke Truhe und stemmte den Deckel mit seinen wunderschönen Beschlägen in die Höhe. Sie mußte nicht lange suchen. Unter einem wahren Berg verstaubter Roben aus Damast lag, eingewickelt in ein fettiges Tuch, eine etwa zwei Fuß hohe Heiligenfigur aus fein geschnitztem und bemaltem Kirschbaumholz. Philippas Augen füllten sich mit Tränen. Sie erinnerte sich an die Figur. Es war die heilige Katharina, wie an dem Rad in ihrer Hand unschwer zu erkennen war. Das weite Gewand fiel in sanften, bläulich schimmernden Wellen über die schmalen hölzernen Hüften. Jede Falte war zu erkennen. Und dann erst der Kopf der Figur! Der unbekannte Künstler hatte sich viel Mühe gegeben, um dem Gesicht der Heiligen eine Aura des Geheimnisvollen zu verleihen. Ihre Augen leuchteten bald melancholisch, bald spöttisch. Je nachdem, aus welchem Winkel das Licht auf ihr stummes Antlitz fiel, schienen die Augen einen neuen Ausdruck anzunehmen. Umrahmt wurden sie von einer wahren Flut sorgfältig gedrehter Locken, welche der unbekannte Meister in zarte Goldtöne getaucht hatte. Ein Jammer, daß die Farbe bereits an mehreren Stellen abblätterte. Zudem war das kleine Podest, auf dem die Heilige auf ihren nackten Füßen stand, schwarz und brüchig, als ob es irgendwann einmal im Feuer gelegen hätte.
    Ratlos blickte Philippa von der Heiligenfigur zu ihrem Vater. Nikolaus von Bora war lautlos auf sein Kissen zurückgeglitten. »Francesca wollte immer, daß du die Figur einmal bekommst. Ich hätte dir ihre Geschichte erzählen sollen, aber nun ist es … zu spät für mich. Ich kann nur darum beten, daß sie mir meinen Verrat vergeben hat. Rede mit deiner Tante Katharina, sobald du nach Wittenberg kommst … und dann … der Schlüssel zum Glück …«
    Nikolaus von Bora murmelte noch etwas, das Philippa aber nicht verstehen konnte. Vermutlich waren es Fieberphantasien, oder er träumte von seiner Gattin, der wunderschönen Francesca von Bora. Momente später fiel er in einen tiefen Schlaf.
    Philippa wickelte die Figur wieder in das Tuch und verbarg sie vorsichtig unter einem Damenschal, der so zerfetzt war, daß Abekke ihn nicht einmal mehr mit dem Schürhaken angefaßt hätte. Sie würde sie später an sich nehmen. Doch zuerst mußte sie unbemerkt in Golfrieds Schreibstube gelangen, um nach dem Testament des Vaters zu suchen. Auf keinen Fall würde sie Abekke erlauben, sie vom Hof zu vertreiben.
    Sie schlich zurück zur Tür, öffnete sie und steckte vorsichtig den Kopf hinaus. Der Korridor lag in schläfriger Dämmerung, niemand war zu sehen. Selbst der Waffenschrank stand noch so schräg da, wie Sebastian ihn hingerückt hatte. Philippa ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen und hastete den finsteren Gang hinunter. Wo, zum Teufel, steckten die Dienerinnen? Offensichtlich hatte keine von ihnen daran gedacht, die Kerzen in den Wandhalterungen anzuzünden. In den steinernen Nischen prangten Schilde, Kurzschwerter und ein paar Lanzen: der traurige Rest der Waffensammlung, die Philippas Großvater einst dort angebracht hatte. Die prächtigsten Stücke hingen seit dem Pfandtag in der Waffenkammer von Burg Medewitz.
    Philippa gab acht, um sich nicht an einer der Truhen zu stoßen oder über ein zerbrochenes Dielenstück zu stolpern. Die schwere Dunkelheit, die sich wie ein schauriger Schlund vor ihr auftat, verwandelte das Haus ihrer Kindheit, in dem sie doch jeden Holzbalken kennen sollte, in etwas Fremdes, Bedrohliches, das nur darauf wartete, sie zu Fall zu bringen. Ihr Herz raste, als endlich die grün angestrichene Tür von Golfrieds Kammer am Ende des Ganges auftauchte.
    Sie hielt inne. Ein sonderbarer Geruch von feuchtem Leder und Laub stieg ihr in die Nase. Philippa horchte beklommen in die Stille des schmalen Korridors hinaus. Ein stechendes Gefühl in der Magengegend mahnte sie, daß es ein Fehler war, zu Golfrieds Kammer zu gehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um, doch ihr Rückzug kam zu spät. Gleich hinter der schmalen Stiege, die vom oberen Stockwerk zu den Räumen der Hausknechte führte, schälten sich zwei massige Körper aus der Finsternis. Philippa wurde übel vor Angst, als sie die beiden Männer erkannte. Es waren Abekkes Landsknechte, die ihr breitbeinig den Weg verstellten.
    »Was sucht ihr hier?« Philippa verwünschte

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