Die Magistra
nicht wirklich heiß und schlug das Blut nicht wie mit Fäusten gegen ihre Schläfen? Wozu also noch aufstehen?
Irgendwann – es mochten Stunden oder auch nur Minuten vergangen sein – kämpfte sie sich doch auf die Füße. Erleichtert überprüfte sie ihre pochenden Gelenke. Das rechte Handgelenk wies eine bläuliche Schwellung auf, aber alles andere schien in Ordnung zu sein. Zögerlich blickte sie sich in der kleinen Kammer um. Einige Schritte links von ihr warf ein schwacher Lichtschein den Schatten von drei Stäben auf den gestampften Lehmboden. Ein Fenster. Philippa lief zu ihm hinüber und stellte fest, daß es nur eine kleine Luke war. Die Stäbe saßen fest, dennoch zog sie sich mit beiden Händen an ihnen empor und rüttelte so lange, bis der Schmerz in ihrem Handgelenk ihr beinahe den Atem nahm. Resigniert ließ sie von dem Gitter ab. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, erkannte sie weit im Westen ein Stück grauschwarzen Himmel. Er sah zerklüftet aus, scharf und kantig wie eine Scherbe, die aus einem tönernen Krug herausgebrochen war. Ein hysterisches Lachen stieg in Philippas Kehle auf. Alles zerbrach um sie herum, sogar der Himmel, und während ihr Vater seine letzten Atemzüge tat, ließen Abekke und Sebastian sie als vermeintliche Pestkranke in diesem Loch verschwinden.
Verzweifelt ließ Philippa sich neben einer Ansammlung leerer Fässer auf das Strohlager niedersinken. Die Fässer glänzten feucht und stanken erbärmlich. Vermutlich waren sie erst vor kurzem ausgewaschen und danach in das Gewölbe gerollt worden.
Philippa war zu müde, um noch einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Erschöpft knüllte sie eine der Decken zusammen und lehnte sich gegen das kalte, schmierige Holz eines Fasses.
5. Kapitel
Im Morgengrauen holte ein lautes Schaben an der Tür Philippa aus ihrem unruhigen Dämmerschlaf. Benommen schlug sie die Augen auf. Ihr Hals war steif und tat höllisch weh. In ihrem Kopf drehte sich alles. Zudem verspürte sie quälenden Durst; ihre Zunge fühlte sich an wie ein Stück vertrocknetes Ziegenleder.
Verwirrt schaute sie sich um. Wo zum Teufel steckte sie nur, und woher kam der Höllenlärm, der sie geweckt hatte? Philippa versuchte sich mühsam zu sammeln. Sie war mit ihrer Mutter an einem Meeresstrand gewesen. Mit bloßen Füßen liefen sie über den heißen, körnigen Sand. Francesca hielt ihr lachend eine Muschel ans Ohr und fragte sie, ob sie die Stimme des Ozeans hören konnte. Danach waren sie gemeinsam, Hand in Hand, einen mit Zypressen bewachsenen Hügel hinaufgestiegen, der zu einem prächtigen Haus aus weißem, glänzendem Marmor führte. Francesca deutete auf eine schattige Laube, an deren Spaliere sich Anemonen und wilder Wein emporrankten. Inmitten der Laube posierte auf einem Sockel eine etwa zehn Fuß hohe Statue, die nicht minder weiß leuchtete als der Palast mit dem flachen roten Dach. Philippa versank förmlich in den kühlen, jedoch so sanften Augen aus Marmor, und plötzlich fühlte sie, wie rhythmische Wellen von Wärme durch ihren Körper glitten und sie völlig einhüllten. Francesca legte ihr eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihr, auf die weiße Gestalt zuzugehen und dann … Dämmerlicht, Kälte, Stroh und leere Fässer.
Tränen traten Philippa in die Augen. Es war nur ein Traum gewesen. Das sonnendurchflutete Marmorhaus existierte ebensowenig wie Francesca und der heiße Sandstrand.
Auch als die letzten Reste ihres Traumes von ihr geflohen waren wie Beutelschneider vor grimmigen Bütteln, hielten die Geräusche an der Tür unvermindert an. Verstört bemerkte sie, wie sich die Schneide einer Axt durch das Holz fraß und einen schmalen Spalt, nicht größer als eine Durchreiche in die Tür stemmte. Kein Wort drang aus dem Gewölbe in ihre Kammer; gewiß hatte man den Knechten verboten, mit der Gefangenen zu reden. Möglicherweise wurden die Arbeiter sogar von Abekkes Landsknechten bewacht. Philippa seufzte und rieb sich das Handgelenk. Es war rot und geschwollen. Sie brauchte dringend kaltes Wasser und eine von Roswithas Kräutersalben, um die Entzündung zu behandeln. Wütend blickte sie auf die Tür. Die Öffnung war mittlerweile so groß, daß sie im Hintergrund eine der Säulen aus Sandstein erkennen konnte. Eine Säule und … Philippas Herz hüpfte vor Freude.
»Philippa, mein Goldstück, wo seid Ihr? Geht es Euch wirklich gut?« Die tiefe Frauenstimme drang fremd und sonderbar hohl durch die Bresche, aber sie gehörte
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