Die Magistra
zu studieren und zu lehren. Gab es wirklich keinen Ausweg aus ihrer Misere?
Unvermittelt wandte sie sich um und blinzelte ins Licht der Sonne, die hinter den Wipfeln der Bäume im Sumpf verschwand. In der Ferne ragte der Turm der Katharinenkapelle vor ihr in den bedeckten Himmel auf. Plötzlich wußte sie, was sie zu tun hatte.
***
»Wenn du soweit bist, lasse ich das Tor öffnen.« Sebastian trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und trieb die Knechte zur Eile an. Irgendwie wirkte er neben Abekke verloren und unsicher. Einen Herzschlag lang glaubte Philippa, er müsse jeden Augenblick erwachen und sich des Unrechts bewußt werden, das er an ihr, seiner einzigen Schwester, beging. Doch Sebastians Miene blieb ausdruckslos. Statt dessen sagte er: »Abekke war so freundlich, dir Junker Armin als Geleitschutz zur Verfügung zu stellen.«
Philippa raffte das Wolltuch, das ihr Roswitha gebracht hatte, enger um die Schultern und schaute sich frierend um. Junker Armin? Ach, den Rotbart meinte er. Warum warf Abekke sie nicht gleich in eine Grube mit giftigen Schlangen oder ließ sie auf dem Hof von den Pferden ihrer Landsknechte zu Tode trampeln?
»Du wirst mich nicht dazu bringen, mit den Landsknechten deiner Braut zu reiten, Sebastian«, erwiderte sie frostig und bedachte den frechen Kerl mit dem spitzen Kinnbart mit einem vernichtenden Blick. »Lieber falle ich auf der Landstraße fremdem Diebsgesindel zum Opfer, als auch nur eine Sekunde in Gesellschaft eures Junkers zu verbringen!«
Sebastian zuckte ratlos die Achseln. Dann befahl er einen der Knechte am Tor, das Gatter wieder zu schließen.
In der heftigen Auseinandersetzung um die Eskorte des Reisewagens fand schließlich die alte Roswitha eine Lösung. Zaghaft schlug sie vor, man könne doch den jungen Prediger aus Wittenberg um Beistand bitten, den Gehilfen des Ortsgeistlichen. Sebastian war sofort einverstanden und schickte einen Boten ins Dorf. Der neue Prädikant redete nicht viel. Aus seiner Herkunft und Vergangenheit machte er ein großes Geheimnis, aber er schuldete dem Gut noch einen Gefallen, und nun war die Zeit gekommen, diese Schuld einzufordern. Philippa beobachtete ihre zukünftige Schwägerin aus den Augenwinkeln. Abekke wirkte enttäuscht und überaus wütend.
Ein letztes Mal ging Philippa durch das Haus ihrer Kindheit. In der Halle machte sich ein Diener daran, ein Feuer im Kamin zu entzünden. Als er Philippa bemerkte, deutete er eine halbherzige Verbeugung an und entfernte sich. Vermutlich hatte die Dienerschaft Anweisung erhalten, nicht mehr mit der verstoßenen Tochter des alten Gutsherrn zu reden. Vor dem hohen Lehnstuhl ihres Vaters blieb Philippa stehen. Liebevoll strich sie über den Rand seines Zinnbechers mit dem fein ziselierten Henkel. Die Eichentafel war mit Brotkrümeln und den Resten eines gekochten Rebhuhns übersät.
Bevor Philippa die Stiege zum oberen Stockwerk hinauflief, blickte sie sich nach allen Seiten um. Der Rotbart war offensichtlich bei seiner Herrin im Hof zurückgeblieben, aber das hieß nicht allzuviel. Schließlich hatte Abekke noch zwei weitere Landsknechte mit ins Haus gebracht, die sich seit Tagen an den kargen Vorräten der von Boras gütlich taten. Wo zum Teufel steckten diese beiden?
Philippa durchquerte den Korridor; dieses Mal jedoch verspürte sie keinerlei Furcht. Abekke und Sebastian hatten erreicht, was sie wollten. Sie würden sie gewiß nicht noch ein weiteres Mal überfallen lassen. Ein kurzer Schauder rann über Philippas Rücken, als sie die Sterbekammer ihres Vaters betrat. Die Bettstatt fehlte, vermutlich hatte Sebastian sie zerschlagen und verbrennen lassen. Noch immer wehte ein schwacher Geruch nach Wacholderrauch und Heilkräutern durch den Raum. Keine Medizin hatte den Tod aufhalten können, nachdem er mit dürren Klauen an die Tür der Stube geklopft hatte. Philippa hielt einen Moment inne, um gegen das Gefühl einer Ohnmacht anzukämpfen. Sie atmete tief durch. Ihr Vater war tot, nichts konnte ihn wieder zurückbringen, aber sie hatte ihm ein Versprechen gegeben, und dieses Versprechen würde sie halten. Ihm, dem wahren Herrn von Bora, zum Gedenken. Sie öffnete die schwere Eichentruhe und durchsuchte sie, bis sie auf das in Öl getränkte Bündel stieß: die Statue der Heiligen. Das Vermächtnis der schönen Francesca von Bora. Vorsichtig steckte sie das Bündel unter ihren weiten Umhang und verließ die Kammer, ohne sich noch einmal umzusehen.
Als Philippa wieder in den Hof
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