Die Magistra
auf die Beine half und sie gegen seine Schulter lehnte, erkannte sie ihren Bruder. Er war unrasiert, und sein Wams stank nach billigem Wein und getrocknetem Schweiß.
Neben der Tür standen Abekke und der Rotbart, der Philippa frech ins Gesicht grinste. Roswitha griff ihr unter die Arme, da ihre Füße ständig einknickten. Mit vereinten Kräften schoben sie Philippa die Wendeltreppe hinauf.
»Ich danke Gott, daß die Seuche wenigstens Euch verschont hat, Philippa«, begrüßte Abekke sie im Hof mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen. Sie trug ein Kleid aus fließender nachtblauer Seide, darüber einen weiten Mantel mit langen, enganliegenden Ärmeln. Ihr Haar war straff nach hinten gebürstet und wurde von zwei Perlmuttkämmen nur notdürftig gebändigt.
Das Tageslicht stach Philippa in die Augen, und das Geblöke und Geschnatter des Viehs dröhnte schmerzhaft in ihren Ohren. Aber wenigstens wußte sie nun, daß sie noch am Leben und nicht lebendig begraben war.
»Ihr habt Vater bereits beigesetzt, nicht wahr?« fragte sie Sebastian kalt. »Ich kann nicht glauben, daß du mich daran gehindert hast, Abschied zu nehmen.«
»Glaub mir, Schwester, ich hatte keine andere Wahl. Nach dem Gesetz müssen an der Pest Gestorbene noch am selben Tag begraben werden. Wir wußten nicht, ob du … ich meine, ob du nicht auch …«
Philippa wandte sich zornig ab. Am liebsten hätte sie Abekke ihr hinterhältiges Lächeln aus dem Gesicht geschlagen. Ihr Blick fiel auf den alten Reisewagen ihres Vaters. Er stand direkt hinter dem Tor, wo es zur stillgelegten Schmiede ging; zwei Mägde und ein Knecht schleppten Truhen und Bündel aus dem Haus, die sie dann mit vereinten Kräften auf das Gefährt hievten. Philippa warf ihrem Bruder und dessen Braut einen eisigen Blick zu.
»Was soll das bedeuten?« fragte Philippa mit einer leisen Vorahnung. »Wollt Ihr etwa verreisen, Abekke?«
Ohne zu zögern, stellte sich Sebastian von Bora neben seine Braut. »Der Wagen ist für dich bestimmt, Philippa. Unter den gegeben Umständen halten wir es für besser, wenn du nicht in Lippendorf bleibst, sondern erst einmal an einem anderen Ort zur Ruhe kommst. Ich habe einen Boten zu unserem Onkel Hans nach Zölsdorf geschickt. Er ist einverstanden, dich in seinem Haus aufzunehmen. Vielleicht kannst du später seine Töchter im Lesen und Schreiben unterrichten, und wer weiß, eines Tages …«
»Das habt ihr euch ja fein ausgedacht«, rief Philippa. »Wo steckt Golfried? Er hat Vaters echtes Testament, in dem steht, daß ich in Lippendorf bleiben darf, solange ich will!«
»Euer Verwalter ist nicht mehr auf dem Gut, Teuerste«, mischte sich Abekke in die Auseinandersetzung ein. »Der treulose Kerl hat sich einfach aus dem Staub gemacht, als es mit seinem Herrn zu Ende ging. Vermutlich fürchtete er, Sebastian würde ihn wegen seiner jahrelangen Mißwirtschaft zur Rechenschaft ziehen. Mein Vater pflegte betrügerische Verwalter in Ketten zu legen.«
Sebastian räusperte sich und starrte betreten auf die junge Frau an seiner Seite, die er um Haupteslänge überragte. Philippa sah ihm an, daß Abekkes Einmischung ihm nicht gefiel. Und doch schien es zwischen beiden eine unwiderrufliche Übereinkunft zu geben. Zumindest was Philippas Zukunft betraf.
»Golfried ist nach Magdeburg geritten. Soviel ich weiß, hat er in der Stadt Verwandte. Doch bevor er aufbrach, hat er mir Vaters Testament übergeben!« erklärte Sebastian mit fester Stimme. »Vater hat mich als seinen legitimen Sohn zum Erben des Guts gemacht, wie es dem Brauch der sächsischen Ritterschaft entspricht. Gewiß bin ich verpflichtet, dir eine Aussteuer zu stellen, aber wenn diese nicht allzu hoch ausfällt, liegt das auch an dir und deinen Geschäften.«
»Du glaubst allen Ernstes, meine Bücher hätten unser Gut ruiniert?«
»Es wird spät, Liebster«, bemerkte Abekke mit drängender Stimme. »Vergiß nicht, daß deine Schwester noch einen weiten Weg vor sich hat.«
Philippa klopfte den Staub vom Saum ihres Kleides und ging zu dem Wagen hinüber, ohne auf Abekkes Äußerung einzugehen. Einer der Knechte befestigte eine Plane aus Ziegenleder über dem Gestell, das sie und ihre Begleiter vor Regen schützen sollte. Zölsdorf, dachte sie unglücklich. Ohne Golfried und dessen Dokumente saß sie auf dem abgeschiedenen Hof ihres Onkels wie Odysseus am Gestade der Circe. Ohne Hoffnung, jemals frei und ungebunden zu sein und das tun zu können, was sie als ihre Berufung ansah:
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